Schwabing:Im Ich

Kunst hilft, Abstand und Mut zu gewinnen: Frauen, die im Wohnheim des evangelischen Beratungsdienstes leben, machen mit Workshops wichtige Erfahrungen. Aktuell geht es um Auseinandersetzungen mit dem Spiegelbild

Von Nicole Graner, Schwabing

Einmal nicht daran denken. Nicht daran, dass die Beziehung zerbrochen ist. Krankheit oder Drogen das Leben mit einem Schlag verändert haben. Nicht daran, dass man seine Ordnung verloren hat, mit der es möglich war, dem Alltäglichen Struktur zu verleihen. Nicht daran denken, um neue Perspektiven wahrzunehmen, neue Wege zu gehen und um den Mut wiederzufinden, das Leben wieder zu lieben. Wenn die Frauen, die im Wohnheim des evangelischen Beratungsdienstes leben, weil sie keine Bleibe mehr haben, zum Stift greifen, oder zum Pinsel, wenn sie im Englischen Garten Frottagen machen oder Collagen, dann beginnt ein Prozess: Das Schmerzende verfliegt. Für den Moment - und manchmal auch länger. Und: Die Frauen entdecken eine Medium, mit dem eine ander Form der Selbstreflexion möglich ist - das Medium der Kunst.

Seit zwei Jahren bietet die 47-jährige Andrea Lesjak, die eigentlich Kunstgeschichte studiert hat und Inszenierungen in der freien Theaterszene und Klangkunstprojekte realisiert, Kunst-Workshops für die Frauen des Wohnheims an. Treffen, in denen es nicht um die Probleme geht, sondern um den spielerischen Umgang mit Kunst und um kunstgeschichtliche Zusammenhänge. "Über die Schwierigkeiten der Frauen oder warum sie im Wohnheim sind, sprechen wir kaum", sagt Lesjak. Und das, so sagt sie, sei auch gut. Schließlich gehe es ja um Loslösung, um die Konzentration auf etwas Neues. Man könnte auch vom Leichter-werden sprechen, wenn es gelingt, die Frauen über den Weg der Kunst an neue Denkprozesse heranzuführen. "Es kostet nichts, und man kann sich neue Inspirationen holen", sagt L.T. Oder C.K. Sie beschreibt das , was am Ende Ziel des Workshops sein könnte: "Man ist voll von Alltagsproblemen und ganz unbeweglich und (man) findet in der künstlerische Arbeit wieder Freiheit." Freiheit - ein großes Wort. Eine Sehnsucht.

Chilichicks Ausstellung

Spiegelbilder: Mit ihren Selbstporträts haben sich die Frauen des Kunstworkshops von Andrea Lesjak lange auseinander gesetzt.

(Foto: privat)

Drei Worte: Miteinander, Kunst und das Ich. Sie prägen die Workshops. Und auch das aktuelle Projekt. Andrea Lesjak hat ihre "Künstlerinnen" fotografiert und die Porträtierten dann gebeten, sich mit ihrem Spiegelbild auseinanderzusetzen, ihre Fotografien künstlerisch so zu bearbeiten, wie sie sich tatsächlich sehen. "Der Blick in das Ich war eine spannende Erfahrung, für einige kein einfacher Prozess", erklärt Lesjak, die weiß, wie sehr die Bilder das Unterbewusste der Frauen wach gerufen haben. "Ich habe vor meinem Bild selbst Angst", sagt F.Ö. "Das ist meine Vergangenheit." "Wer ist das" fragt T.M, als sie ihr Bild sieht. "Ich erkenne mein Fotoporträt als eine Sie, nicht als ein Ich", erklärt F.Ö. ihr Spiegelbild. Und so verfremden die Frauen, kolorieren ihr Bild, übermalen den trüben Blick oder überkleben das Gesicht, das nicht zu ihnen zu gehören scheint. Die Arbeiten sind nun neben Collagen und auch Trickfilmen in der Seidlvilla zu sehen.

Wie sehr die Kunst-Workshops helfen, Abstand, aber auch Mut zu gewinnen, zeigt zum Beispiel auch, dass sich die Gruppe einen Namen gegeben hat: Chillichicks. Klingt ein bisschen nach Feuer, nach verrückten Ideen. Und auch nach jenem Wunsch nach Freiheit. Aus der Sicht der Frauen ist er, wie L.T. beschreibt, ein Synonym für "starke und freche Gören". Chillichicks, das sind Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen, die sich befreien wollen. Von Ängsten.

Chilichicks Ausstellung

Manches, was ihnen nicht gefiel, haben sie also mit Farbe übermalt oder überklebt. Anderes haben sie unberührt gelassen.

(Foto: privat)

Dass Andrea Lesjak, zusammen mit zwei professionellen Künstlerinnen den richtigen Weg gefunden haben muss, durch die Kunst Inneres transparenter zu machen - auch das zeigen die Arbeiten in der Seidlvilla. Denn sie weisen - trotz aller Distanz, die der Betrachter zunächst spüren mag - einen neuen Weg, den man auch Hoffnung nennen kann.

Chillichicks: Collagen, Trickfilme, Selbstporträts, zu sehen bis 12. April, Seidlvilla, Nikolaiplatz 1 b. Öffnungszeiten: täglich von 12 bis 19 Uhr, außer 28. und 29. März sowie 3. bis 6. April. Informationen und Führungen: andrea.lesjak@penplan.com.

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