Schwabing:Briefe eines Unbekannten

Gerlinde Becker hat aus der Feldpost ihres Vaters, der 1945 in einem Lager in Sibirien starb, ein Kunstprojekt gemacht

Von Jutta Czeguhn, Schwabing

"Ich kenne den nicht, aber er hat das in der Hand gehabt." Es ist die Art, wie Gerlinde Becker "den" sagt. Nicht abfällig, nein, völlig unsentimental, freimütig. Die pensionierte Ärztin und Künstlerin steht in ihrem zum Atelier umfunktionierten Wohnzimmer in Schwabing vor einer Art Herbarium. Akkurat fixiert an vergilbten, postkartengroßen Briefbögen sieht man hinter Glas eine Sammlung gepresster Pflanzen. "Wohlriechende Wicke, Lettland, den 9. August 1944" hat jemand neben libellenzarte Blüten geschrieben, die vielleicht einmal in sattem Rot auf einer Wiese leuchteten. Dieser Jemand, der die Blumen einst gepflückt hat, war Ignaz Becker, Gefreiter im Zweiten Weltkrieg, eingesetzt an der Ostfront, gestorben - vermutlich an einer Blutvergiftung - im Kriegsgefangenenlager Rubzowsk, Westsibirien, am 5. August 1945. Er war damals 36 Jahre alt, seine Tochter Gerlinde gerade zwei.

"Aus einem anderen Leben" heißt "Lin" Beckers Ausstellung im Bayerischen Verwaltungsgericht. Der Pflanzen-Schaukasten wird dort zusammen mit knapp 50 anderen Exponaten bis zum 9. Oktober zu sehen sein. Den Titel hat sie von ihrem Vater geborgt oder geerbt, ihm gewidmet - wie immer man die Sache sehen will. "Ich habe diese Überschrift auf einer Feldpost vom 9. Februar 1944 entdeckt", erzählt die 72-Jährige. Es sei sehr ungewöhnlich für den Vater gewesen, einen Brief so zu beginnen. Nahezu täglich schrieben sich ihre Eltern - von 1943 an, als Ignaz Becker eingezogen wurde, bis zu seinem Tod in Sibirien im Sommer 1945. Die Mutter hat die Feldpost, Hunderte Briefe, aufgehoben und abgeheftet in zig Ringbuchordnern. Die Korrespondenz ist lückenlos erhalten, denn der Vater hat die Briefe seiner Frau den Antworten von der Front stets gleich wieder beigefügt. Vielleicht, weil er ahnte, dass er sie nicht würde selbst zurückbringen können? Dass sie eine Art Vermächtnis, Testament werden würden. Vielleicht war dieser Ignaz Becker aber auch nur ein pragmatischer Mensch, Soldaten reisen besser mit leichtem Gepäck.

Schwabing: Mehr als nur Papier: Hunderte Feldpostbriefe fand Gerlinde Becker im Nachlass ihrer Mutter.

Mehr als nur Papier: Hunderte Feldpostbriefe fand Gerlinde Becker im Nachlass ihrer Mutter.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Mutter habe die Feldpost später wie einen Schatz gehütet, aber "nie wieder über den Vater gesprochen". Sie habe auch nie wieder geheiratet. Im Grunde - davon ist Gerlinde Becker überzeugt - habe Erna Becker mit ihrem Leben als Kriegswitwe sogar Glück gehabt. Wenn der Vater den Krieg überlebt hätte, "wäre sie wieder Hausfrau geworden und hätte noch ein paar Kinder mehr bekommen." Auf sich allein gestellt, habe die Mutter sich zur Chefsekretärin eines Unternehmens hochgearbeitet. Das war im Rheinland. Gerlinde gehörte zu den geschätzt 2,5 Millionen Halbwaisen, die die Gefallenen und Vermissten nach dem Zweiten Weltkrieg zurückließen. Sie berichtet von einer glücklichen Kindheit und kann sich nicht erinnern, den Vater je vermisst zu haben. Nur einmal als Elf- oder Zwölfjährige habe sie sich die Frage gestellt. "Wie wird der wohl gewesen sein?" Damals habe sie die Fotografie für sich entdeckt, ein Hobby, das "der" , ihr Vater, auch gerne ausübte.

Gerlinde Becker wirkt wie jemand, der ein selbstbestimmtes Leben geführt hat und nun ziemlich aufgeräumt, teils selbstironisch zurückblicken kann. Schon als Jugendliche ist sie alleine durch Europa gereist, später als Medizinstudentin ging es durch Nordafrika, im Jemen hat sie Kath gekaut, in den Sechzigern in München Medizin studiert und, ja, wie alle rebelliert. In Berlin hat sie mit einem Künstler gelebt und selbst Kunst gemacht. Das war ihr wichtig. Auch später, als sie schon längst die eigene Praxis in Ramersdorf hatte.

Schwabing: Für die Künstlerin sind die Briefe ein Weg, etwas über den Vater zu erfahren, den sie nie kennengelernt hat.

Für die Künstlerin sind die Briefe ein Weg, etwas über den Vater zu erfahren, den sie nie kennengelernt hat.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Dass sich nun gerade 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges diese Ausstellung mit der Feldpost ergeben hat: Zufall. Es sei wohl so, dass für sie - wie für viele Menschen ihres Alters - die Erfahrungen der Kindheit wieder näher heranrückten. "Ich habe erst viele Jahre nach dem Tod meiner Mutter begonnen, mich mit den Briefen zu befassen, allerdings nur mit denen meines Vaters", erzählt sie. Die Feldpost sei in einer alten Truhe verwahrt und lange im Besitz des Bruders gewesen. Die künstlerische Auseinandersetzung damit sei der Versuch, eine Brücke in die Vergangenheit zu bauen, die Annäherung an einen Unbekannten.

Das Papier, auf dem Ignaz Becker mit Bleistift jeden Zentimeter ausnutzte, ist genauso welk und zerbrechlich wie die staubtrockenen Blüten, die er - der Pflanzenfreund - nach Hause schickte. "Erstaunlich, so ein Stück Papier überdauert, während der Mensch schon lange nicht mehr ist", dachte sie sich bei der Arbeit. Für ihre beiden großen Wandinstallationen hat Gerlinde Becker die Briefe auf groben, flusrigen Jutestoff genäht oder geklebt. Die blasse Handschrift des Vaters ist nicht einfach zu entziffern, Seiten überlagern einander, sind gelocht. Der Betrachter muss Buchstaben, ganze Sätze ergänzen, den Inhalt rekonstruieren. "Meine liebe Frau", beginnen die meisten Briefe. Niemals schreibt Ignaz Becker "Erna", manchmal, selten "Frosch", offenbar ein Kosename. Das rührt die Tochter, die so gar nicht zu Sentimentalität neigt. Ebenso wie die kleinen Botschaften, die der Vater hin und wieder an seine Kinder beigab. Einmal nennt er Gerlinde darin "Giftnudel", was sie heute sehr amüsiert. Die Briefe dokumentieren auch die verzweifelten Versuche der Eltern, über die weite Entfernung Nähe herzustellen, sich synchron zu schalten. Beim Frühstück, so wird verabredet, werde man ganz fest aneinander denken.

Schwabing: Der Vater schrieb fast täglich von der Ostfront und schickte gepresste Pflanzen nach Hause.

Der Vater schrieb fast täglich von der Ostfront und schickte gepresste Pflanzen nach Hause.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Gerlinde Becker hat erstaunt, wie viel Alltägliches doch in den Briefen zu lesen ist, es geht um die Verpflegung der Soldaten, Naturschilderungen, Wachdienste. Ihr Vater, auch das erschloss sich ihr, sei wohl ein penibler Charakter gewesen, in gewisser Weise autoritär. Noch 1945 habe Ignaz Becker an eine glückliche Heimkehr und den "Endsieg" geglaubt. War es Gottvertrauen, Flunkerei gegenüber den Feldpost-Zensoren, Schonung der Lieben daheim oder der Selbstbetrug eines längst Verzweifelten? Gerlinde Becker weiß es nicht. Sie hat viel nachgedacht darüber, wie der Vater als sehr katholischer Mensch zum Nazi-Regime stand, und ob er Kriegsverbrechen begangen hat. Antworten hat sie in den Briefen aus einem anderen Leben nicht gefunden.

"Aus einem anderen Leben", Ausstellung im Bayerischen Verwaltungsgericht, Bayerstraße 30, Vernissage an diesem Donnerstag, 13. August, 17.30 Uhr. Bis 9. Oktober, Montag bis Donnerstag von 8 bis 16 Uhr, Freitag von 8 bis 14 Uhr. Der Eintritt ist frei.

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