Schriftsteller II :Wenn Werte auf den Kopf gestellt sind

Schriftsteller II : "Literatur muss für Ideologien untauglich sein", aber sie könne Menschen leiten, sagte Herta Müller am Samstag im Literaturhaus.

"Literatur muss für Ideologien untauglich sein", aber sie könne Menschen leiten, sagte Herta Müller am Samstag im Literaturhaus.

(Foto: Robert Haas)

Herta Müller mahnt im Literaturhaus, Freiheit nicht als selbstverständlich zu betrachten

Von Yvonne Poppek

Der Schriftsteller verfügt über ein "Glitzerpulver". Das streut er über seinen Text und alles glänzt. Natürlich: Es war überspitzt, was Nobelpreisträgerin Herta Müller am Samstagabend im Literaturhaus bei ihrem Auftritt sagte. Keinesfalls wollte sie die Kunst des Autors herabwürdigen. Müller ging es um die Grenzen der Literatur, um die Frage, wie weit es Literatur möglich ist, gesellschaftlich oder politisch Einfluss zu nehmen. Und hier war sie ganz entschieden: "Literatur kann sich nicht aufhalsen, die Gesellschaft vor etwas zu schützen. Das müssen die Leute selbst machen. Die nicht-schreibenden Menschen."

Herta Müller, die rumänisch-deutsche Schriftstellerin, die 2009 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war, war die letzte der drei Autoren der Kassandra-Abende im Literaturhaus. Und sie kam wie Wole Soyinka und David Grossman - so attestierte es der Moderator Jürgen Wertheimer - zu dem Fazit: "Literatur muss für Ideologien untauglich sein. Sonst verdient sie ihren Namen nicht." Allerdings könne sie "Menschen dorthin leiten, dass sie nicht verrohen, dass sie sensibel sind, dass sie beobachten", sagte sie. "Mehr kann sie nicht."

Dennoch: Moderator Wertheimer war sich sicher, dass man an diesem Abend die "Fleischwerdung der Kassandra in Form einer zeitgenössischen Autorin" beobachten konnte, mit solch einer Dringlichkeit sprach Herta Müller. So warnte sie etwa vor der "dämonischen Unsicherheit", die Populisten wie die Vertreter der AfD aufbauten. Mit Angst machten sie Politik. Selbst wenn derzeit eine Mehrheit dieser Politik nicht zustimme, so misstraue sie den Zeichen. Ebenso warnte die Nobelpreisträgerin eindringlich vor einer Verrohung. Beispiel Donald Trump: Je infamer und ungehobelter er im Wahlkampf agiert habe, desto größer sei die Zustimmung gewesen. "Wenn die Werte einmal auf den Kopf gestellt sind, wie bekommt man sie wieder zurück?", fragte Müller. Und ergänzte eher zweifelnd: "Sind wir davor gefeit?"

Herta Müller, das war nach eineinhalb Stunden Gespräch im Literaturhaus überaus deutlich, nahm ihre Rolle als Mahnerin, als Kassandra ernst. Dringlich und atemlos im Gespräch mit Wertheimer. Überlegt und poetisch mit einem Essay zum Thema Freiheit, den sie eingangs las. Den Text hatte sie bereits auf einer Tagung im Brüssel zu "European Angst" vorgetragen, hatte damals schon gewarnt, Freiheit als zu selbstverständlich zu betrachten: "Sie könnte uns sonst gestohlen werden." Für diesen wie von Glitzerpulver überstäubten Text erhielt Müller minutenlangen Applaus - im Literaturhaus, ein paar Hundert Meter von der Sicherheitskonferenz im Bayerischen Hof entfernt. Für den ersten Politiker, der diese Distanz bewältige, würde ein Preis ausgelobt, hatte Wertheimer zu Beginn des Abends süffisant bemerkt. Wie der gestaltet sein könnte, darüber musste sich niemand ernsthaft Gedanken machen.

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