Schriftsteller I:Eine Fußballmannschaft Kassandras

Schriftsteller I: Wole Soyinka hatte seine Zuhörer im Literaturhaus mit einer persönlichen Erzählung zu dem Thema beschäftigt, ob Literaten heutzutage die neuen Kassandras seien.

Wole Soyinka hatte seine Zuhörer im Literaturhaus mit einer persönlichen Erzählung zu dem Thema beschäftigt, ob Literaten heutzutage die neuen Kassandras seien.

(Foto: Robert Haas)

Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka tritt mit einer Mut machenden Erzählung auf

Von Isabel Pfaff

Als Wole Soyinka , 82, in München das Rednerpult betritt, entschuldigt er sich für seine Augen, er habe Probleme. Er hoffe, dass der Vortrag trotzdem klappe. Die Entschuldigung ist unnötig. Soyinka, dunkles Hemd, blaue Weste, aschgrauer Afro, blickt am Freitagabend selten auf sein Manuskript. Er erzählt, statt vorzulesen. Soyinka, Afrikas erster (und bisher einziger schwarzer) Literaturnobelpreisträger, beherrscht perfekt, was man auf dem Kontinent Oratur nennt: Erzählkunst, die ohne Schrift auskommt.

Soyinka ist einer der Schriftsteller, die anlässlich der Sicherheitskonferenz ins Literaturhaus geladen wurden, um über Kassandra zu sprechen: jene Frau aus der griechischen Mythologie, die den Untergang Trojas vorhersagte, aber der niemand glaubte, bis es zu spät war.

Nehmen Literaten heute die Rolle der Kassandra ein? Soyinka beantwortet die Ausgangfrage gar nicht erst. Stattdessen nimmt er das Publikum mit auf eine Reise durch sein Schaffen, die zeigt, wie sehr der Nigerianer eine moderne Version der griechischen Seherin ist - inklusive dem Fluch, der auf ihr lag.

Soyinkas Erzählbogen beginnt Ende der Sechzigerjahre, als Nigeria vom Biafra-Krieg erschüttert wurde. Der junge Schriftsteller, damals Anfang dreißig, verurteilte den brutalen Feldzug der Regierung gegen die Rebellen im Süden des Landes öffentlich und prophezeite, dass der Aufstand nicht zu besiegen sei. "Biafra hatte eine längere Geschichte als das koloniale Konstrukt Nigeria, das machte den Wunsch der Sezessionisten in meinen Augen legitim."

Er wurde verhaftet und verhört. Wer er sei, dass er die Regierung in Frage stelle? "Hätte ich damals von der Veranstaltung heute gewusst", flachst Soyinka, "ich hätte gesagt: Kassandra, mein Name ist Kassandra!" Denn die Sezessionisten verloren zwar ihren Krieg, besiegt worden sei Biafra aber bis heute nicht. Die Menschen in dieser Region trügen den Kampf weiter in ihren Herzen, "auch junge Schriftsteller und Journalisten, die erst nach dem Krieg geboren wurden", erzählt Soyinka.

In seiner Heimat wechselten sich Generäle und Diktatoren an der Macht ab, und Soyinka, Autor, Lyriker, Dramatiker und Aktivist, störte ihre Herrschaft mit seinem Schaffen immer wieder. Insgesamt drei Mal wurde er verhaftet, zuletzt 2004. Drei Mal ging er ins Exil, verbrachte 13 Jahre im Ausland, doch er kehrte immer zurück.

Gerade bewahrheite sich noch eine weitere seiner Prophezeiungen: dass auf niedergerissene Mauern neue folgen. Nach dem Fall der Berliner Mauer habe er geahnt, dass religiöser Fanatismus die nächste, unsichtbare Mauer sein werde. "Und nun baut Trump Mauern, gegen Muslime und noch gegen vieles andere."

Auch wenn Soyinka den Fluch bedauert, der auf den Kassandras dieser Welt liegt: Es tröste ihn, sagt er, dass viele andere in der gleichen Lage seien wie er. Dass es "so etwas wie eine Kassandra-Fußballmannschaft" gebe.

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