Schlachthof-Viertel:Brioche, Weißwurst und ein kreolisches Menü

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Das Schlachthofviertel hat sich zu einer der interessantesten kulinarischen Gegenden der Stadt entwickelt.

Jan Bielicki

Der Bauch von München beginnt um fünf Uhr früh zu grummeln. Da wanken die ersten Frühaufsteher an die Bar der Pasticceria Bussone. Was sie brauchen, ist ihren bleichen Gesichtern anzusehen: erst einmal einen starken cappuccino. Oder wenigstens einen caffè, und zwar einen doppio, per favore.

Für das launige Frühprogramm der italienischen RAI, das auf der Leinwand über der Theke blödelt, haben sie nur ein morgendlich verquollenes Auge. Das Koffein hinuntergestürzt, dann gehen die Männer in ihren Blaumännern und grünen Schürzen an die Arbeit, hinüber über die Baustelle, die sich vor dem Bussone gerade auftut, in die Großmarkthalle.

Rund 3000 Tonnen Obst und Gemüse, vom Petersil aus Langwied bis zur Drachenfrucht aus Vietnam, werden auf Deutschlands größtem Großmarkt im Tagesschnitt verkauft, donnerstags mehr, dienstags weniger.

Auch Gennaro Bussones Vater Carmine handelt dort, mit Südfrüchten, mit Gemüse, all dem, was nicht richtig wächst auf den oberbayerischen Hügeln. Und aus dem riesigen, 1912 gebauten Industriedenkmal kommen auch die frühen Stammgäste in Gennaro Bussones kleines Stück Italien - auf den caffè und die frischen brioche, die cornetti, die biscotti, die tramezzini.

Hier zischt die kastengroße Espressomaschine, hier blitzt der Chrom - und Gennaro Bussone ist ziemlich unzufrieden. Weil die Gäste in der Früh "normalerweise in zwei, drei Reihen" vor der Theke stehen und am Kaffee nippen. "Die Baustelle!", ächzt Bussone. Sie hält die Kunden ab, die sonst auf ihrem Weg aus den südlichen Vororten zur Arbeit in Stadt sich bei ihm ihren Koffeinschuss setzen.

Immer frische Zutaten

Schön soll er werden, der Gotzinger Platz vor dem Großmarkt, wenn die Bauarbeiten im Herbst beendet sind. Richtig schick wird es gerade in der Gegend. Auch Bussone, hier geboren und aufgewachsen, sieht den Aufstieg seines Viertels mit Freude: "Vor zwanzig Jahren hat sich hier noch keiner reingetraut."

Als ärmlich, ziemlich rauh, ja sogar gefährlich galten die Straßen rund um die Schlachthöfe, Vieh- und Fischmärkte, Gemüse- und Fruchtmärkte, immer und in jeder Stadt.

Andererseits gab es hier die frischesten Zutaten zu kaufen, verkehrten hier die Leute, die mit diesen Zutaten umgehen konnten, die Bauern, Gärtner und Händler, die Metzger und die Köche - die diesen düsteren Großstadtgegenden und ihren Lokalen unter entdeckungsfreudigen Gourmets einen verrucht-lockenden Ruf verschafften. Als "Bauch von Paris" romantisierte schon der Schriftsteller Victor Hugo die Markthallen seiner Heimatstadt.

Tatsächlich war Paris das Vorbild für den Magistrat der Kgl. Haupt- und Residenzstadt München, als er zwischen 1878 und 1912 erst den Städtischen Schlacht- und Viehhof und später die Großmarkthalle auf die Felder zwischen der Stadt und dem Dorf Sendling setzen ließ.

Und zwischen Viehmarkt und Schlachthallen kam als erstes: ein Wirtshaus. Im Wirtshaus im Schlachthof besiegelten die Viehhändler ihre Händel bei Weißwurst und Weißbier, stärkten sich die Metzger mit einer Portion vom Vieh, das sie eben noch unter dem Schlachtmesser hatten.

Lang ist's her. Gerade einmal 70.000 Rinder und 250.000 Schweine werden im Schlachthof jährlich geschlachtet. "Vom Schlachthof kann das Wirtshaus schon lange nicht mehr leben", sagt Günter Knoll. Der Theatermann, der schon vor zwei Jahrzehnten sein Hinterhoftheater im Münchner Norden etablierte, hat den Schlachthof seit 1994 zu einer der wichtigsten Bühnen für Kabarett, Comedy und Livemusik gemacht.

Wenn sein alter Schulfreund Ottfried Fischer im großen Wirtssaal zu Ottis Schlachthof lädt, sind 400 Plätze ausverkauft. Die Prollblödler Erkan und Stefan hatten im winzigen Nebenraum Ox ihre ersten Auftritte, Parties gibt's, gerade für Menschen über 30, eine Sportbar, auf deren Bildschirmen der Sportsender DSF flimmert, und einen Biergarten für späte, laue Sommernächte: "Rinderhälften", freut sich Knoll über die Nachbarn, "beschweren sich nicht über Lärm".

Höchste Griechen-Dichte

So spiegeln die Lokale des Schlachthofviertels den Wandel der Stadt wie kaum eine andere Gegend Münchens. Westlich des Schlachthofs zur Lindwurmstraße hin sieht es noch wenig romantisch aus und schon gar nicht schick. Dafür sehr griechisch.

Vom Nafplio zum Kastoria geht es die Adlzreiterstraße runter, vom Südbahnhof über Anesis und Tassos am Schmeller's vorbei die Schmellerstraße wieder hoch. Nirgendwo in München gibt es eine ähnliche Dichte von einfachen Griechenkneipen. "Hier ist die Stadt wirklich multikulturell", schwärmt Schlachthof-Wirt Knoll, "und es funktioniert ganz relaxt."

Gut, vor einem Jahr haben sich rechtsradikale Skinheads aus der Wirtschaft Burg Trausnitz (kroatische Küche!) auf einen griechischen Passanten gestürzt. Die Leute, die dem Opfer halfen und die Ehre des Viertels wieder herstellten, kamen aus der Taverna Palet - Spezialität des türkischen Lokals: Fisch, sehr frisch, wenn auch weniger edel als im feinen Italfisch ein paar Hausnummern weiter.

Auf der anderen Seite des Schlachthofs, Richtung Isar, ist dagegen längst eine andere Zeit angebrochen. "Als wir hier angefangen haben, war das noch ein bisschen Glasscherbenviertel", erzählt Roger Baranda. Seit zehn Jahren kocht der Weltenbummler aus Grenoble - einst Schiffskoch auf der Calypso des legendären Meeresforschers Jacques Cousteau - in seinem Restaurant Makassar in der Dreimühlenstraße Rezepte, die er aus der Karibik, aus der Südsee, aus dem Orient mitgebracht hat.

Und zwar sehr ambitiös, immer mit einem französischen Touch, was sich herumgesprochen hat: "Zuerst waren die Nachbarn noch etwas geschockt, als plötzlich Limousinen in der Straße standen", sagt Barandas Mitbetreiber und maître Roland Dimpfl.

Inzwischen haben Hollywood-Stars wie Brad Pitt und Wesley Snipes hier Barandas kreolische Fischbällchen gegessen - nicht alle ohne Bedenken: Die Sängerin Lolita Adams, deren Tourbus nicht unter die nahe Eisenbahn-Unterführung passte, weigerte sich zu Fuß weiter durch die, wie sie erschreckt gehört hatte, "Bronx von München" zu gehen.

Exotik ohne Kitsch

Dabei ist in die teuer restaurierten Gründerzeitblocks zwischen Roecklplatz und Schlachthof längst ein anderes Publikum eingezogen: Schwarzgekleidete Leute, die sich am späten Vormittag mit Zeitung zum Frühstücks-caffèlatte an den Tischchen vor Tommasos Eiscafé Italia einfinden.

Tatsächlich findet der Großstadtbürger von Welt hier auf wenigen Metern so gut wie alles, was er kulinarisch braucht. Nebenan etwa das indische Dharma und das kurdische Yol. Oder gegenüber das Centro Habana, das die Exotik, die aus dem Cocktailmixer fließt, von den alten, kubanischen Filmplakaten in die Holztäfelungen dringt und rhythmisch aus den Lautsprechern summt, noch nicht verkitscht hat.

Zwei Ecken weiter bietet, auch exotisch, die Wilde Sau Schweinernes, nichts als Schweinernes, reichlich und billig aus deutschen Landen - wenn nicht gerade Wok-Wochen ausgerufen sind.

"Man kann schon sehr gut essen in der Gegend", schwärmt Herbert Erharter. Der Chef der Großmarkthalle isst gerne italienisch. Im Il Soprano etwa, versteckt hinter dem Großmarkt, räkeln sich nicht nur antike Schöne auf einem zweistöckigen Affresco im besten 60er-Jahre-Adria-Urlaubsstil, zeigt nicht nur der Fernseher, wie Milan gerade kickt - auch die hausgemachte Pasta ist legendär.

Die beste Pizza jedoch lässt Gennaro Bussone machen: Wagenradgroß und hauchdünn kommen sie aus dem Ofen des O'Scugnizz. Eigentlich ist das nur ein Stehimbiss. Abends jedoch ist ohne Reservierung kaum einer der 35 Barhocker zu bekommen.

Sogar aus Starnberg kommen die Pizzaesser - "ja", freut sich Bussone, "das Viertel kommt in Mode." In seinem Lokal bis drei Uhr früh, zwei Stunden bevor um fünf das Viertel wieder in der Pasticceria erwacht.

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