Schankbetrug auf dem Oktoberfest:Maß und Moral

German stereotypes - beer

Prost: Eine Bedienung im Hofbräuzelt.

(Foto: REUTERS)

Der Kampf gegen schlecht eingeschenkte Bierkrüge ist seit Jahrzehnten eine Münchner Spezialität - die Wiesngäste verstehen da keinen Spaß. Und tatsächlich kann keine andere Stadt von sich behaupten, so viel getan zu haben für die Fortentwicklung des deutschen Rechts wider die allzu schäumende Maß.

Von Ronen Steinke

Kaum hatte er den Witz ausgesprochen, da dürfte sich Christian Ude schon auf die Lippe gebissen haben. Es war im wohligen Dunst des Pschorrkellers an der Theresienhöhe: Ude erzählte gerade von der wundersamen Biervermehrung, als er kürzlich in Washington aus einem 30-Liter-Fass mehr als hundert Halbe "gemolken" habe. Man muss sich vorstellen, dass das Publikum an diesem Abend, 1995, etwas perplex aufsah. Als dann der Oberbürgermeister ob seines zweifelhaften Zapferfolges voller Selbstironie eine amerikanische Zeitung zitierte, mit der Aussage, dass er sich mit der "stolzen Leistung" überall sehen lassen könnte, tönte es ihm entgegen: "Aber ned bei uns!"

Den Fehler macht man nur einmal. Ude, damals frisch im Amt, war Gast beim "Verein gegen betrügerisches Einschenken" - also mitten in der Höhle der Bierschaum-Sheriffs, die seit 1899 den Wiesnwirten beim Zapfen auf die Finger schauen. Mit Dutzenden Freiwilligen und heimlich hereingeschmuggelten Messbechern und Maßbändern rücken die Kontrolleure jedes Jahr aus. Mit der Höhe von Füllstrichen und der Tiefe von Schaumkronen ist ein Thema angeschnitten, bei dem schließlich allergrößte Hingabe und ein nicht minder überschäumender Sinn für Gerechtigkeit herrschen - was übrigens nicht zuletzt ein Erfolg dieses Vereins ist. Denn Jahr für Jahr treiben die ehrenamtlichen Kontrolleure die staatlichen vor sich her.

Wo der Kampf gegen die Zapf-Mafiosi so viele Biertrinker-Kräfte mobilisiert, wo es um Ehrlichkeit und List geht und wo gar das böse Wort vom "Schankbetrug" die Runde macht, da bewegt man sich dann schnell in der Domäne der Justiz. Und tatsächlich kann keine andere Stadt von sich behaupten, so viel getan zu haben für die Fortentwicklung des deutschen Rechts wider die allzu schäumende Maß. Bis hinauf zum Bundesgerichtshof ging das schon. Von der Theresienwiese nach Karlsruhe.

In der Fachliteratur haben die entsprechenden Leitentscheidungen Karlsruhes einen griffigen Namen und eine Ordnungsnummer, wie es bei historischen Präzedenzfällen guter Brauch ist: "Ausschank unter Eichstrich I" und "Ausschank unter Eichstrich II" heißen die Entscheidungen. Im ersten Fall, 1983, ging es um eine Halbe; im zweiten, 1986, um eine Maß.

"0,5 l M Hell DM 1,80". Mit diesem Schild hatte ein Wirt geworben. In zwei Krügen war jedoch zu wenig Bier. Ein Verbraucherverein führte 1980 diesen Beweis. Münchens Richter rügten daraufhin einen Wettbewerbsverstoß und verhängten ein Bußgeld, was bis hinauf zum Münchner Oberlandesgericht bestätigt wurde. Erst in der letzten Instanz, in Karlsruhe und mithin in der Weinregion Baden, drangen die Wirtsleute schließlich mit ihrer Verteidigungslinie durch: "Im Hinblick darauf, dass im Gaststättenbetrieb ein gelegentlicher Minderausschank von Bier regelmäßig nicht auf eine vorgefasste, täuschende Absicht zurückzuführen ist", so schrieben die sieben Richterinnen und Richter des 1. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in ihrem Urteil vom 21. April 1983 betreffend zweier Halber zu je 1,80 DM, "wäre es erfahrungswidrig", aus lediglich zwei dokumentierten Vorfällen gleich auf böse Absicht zu schließen. Und ohne Vorsatz: kein Delikt.

"1 Maß 5,- DM". Mit diesem zweiten Schild hatte ein weiterer Wirt geworben. Auch dieser zweite Fall ging bis nach Karlsruhe. Eine Gruppe von Biergartengästen hatte erlebt, dass bei zwanzig Maß zu knauserig eingeschenkt worden war. "Unterschank", sagt der Fachmann. Vielleicht lag es an der etwas dreisten Erwiderung des Wirts, dass die Richter mit ihm hart ins Gericht gingen: Erfahrene Kunden, so hatte der Wirt sich verteidigt, rechneten doch ohnehin nicht mehr mit einem vollen Liter.

Bierschaum-Sheriffs vom "Verein gegen betrügerisches Einschenken"

Vielleicht lag es auch bloß an der eindrucksvollen Beweiswürdigung in diesem Fall. Schon damit hat sich dieses Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. Dezember 1986 einen Platz in der deutschen Rechtsgeschichte verdient. Kurz gesagt: Die Richter am Oberlandesgericht München kannten ihren Pappenheimer - aus persönlicher Erfahrung. So hielten sie das in ihrem Urteil fest: Den Vorwurf des knauserigen Ausschanks "bestätigten auch die im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigenden eigenen Beobachtungen der Mitglieder des erkennenden Senats des Berufungsgerichts in der weiteren und näheren Vergangenheit, nach denen im Biergarten der Beklagten beim Ausschank von einer Maß Bier regelmäßig weniger als ein Liter Bier ausgeschenkt werde."

Im Namen des Volkes erging eine Bußgeldentscheidung, und da konnten die Karlsruher Richter, als die wütende Revision des Wirts auf ihrem Tisch landete, ihren Münchner Kollegen nur beipflichten. Der Wirt hatte mit seiner Revision keine Chance. Heute, fast drei Jahrzehnte später, wird dieses Urteil noch immer als Präzedenzfall zum Wettbewerbsrecht zitiert.

Das harte Wort "Schankbetrug" unterdessen hat noch kein Gericht je wörtlich genommen. Echter Betrug im Sinne des Strafgesetzbuchs, das ist ein schwerer Vorwurf, der noch über den bloßen Wettbewerbsverstoß hinausgeht, der lediglich ein Bußgeld zur Folge haben kann. Bei Betrug droht eine Haftstrafe, bei wirtschaftlichen Größenordnungen, wie sie auf der Wiesn herrschen, sogar schnell eine saftige.

Ein Betrug setzt aber voraus, dass der Täter sein Opfer täuscht. Und dort, wo dicker weißer Schaum über dem Bier schwappt, in einem gläsernen Krug, der Transparenz gewährleistet, dort kann von List und Täuschung nicht die Rede sein, erklärt der Wirtschaftsstrafrechts-Spezialist Lutz Eidam. "Ich sehe ja, was Sache ist, wenn ich den Krug in Empfang nehme." Schon deshalb müsse eine Strafanzeige gegen einen Wirt scheitern. Daneben setze die Strafbarkeit wegen Betruges ohnehin auch noch voraus, dass der Täter in der "Absicht rechtswidriger Bereicherung" handle. Das müsse man erst einmal einem Wirt nachweisen, sagt Eidam, der auch als Anwalt in Wirtschaftsstrafverfahren arbeitet und privat Pils bevorzugt: "Keine Chance". Die Bierschaum-Sheriffs vom "Verein gegen betrügerisches Einschenken" hat das freilich nie von etwas abgehalten. Vor zwei Jahren erstatteten sie eine Strafanzeige gegen Christian Ude: wegen Beihilfe zum Betrug. Der Bürgermeister, so klagten sie, unterstütze nämlich den Fortbestand des Wiesn-"Schankbetrugs", indem er an der Toleranzregelung festhalte.

So stur sind die privaten Bierkontrolleure, dass niemand sich gegen ihre Kontrollen immun fühlen darf. Da nützte es dem Rathauschef Ude auch nichts, dass er vor 18 Jahren in der Hitze des Pschorrkellers selbst dem Verein beigetreten war, als Mitglied mit der Nummer 3636.

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