S-Bahn-Schläger von Solln:"Sebastian ist durch alle Raster gefallen"

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Der Heimleiter Helmut Berger spricht über den tragischen Fall des Solln-Täters, der vier Monate in seiner Einrichtung gelebt hat - aber nie Halt fand.

B. Kastner

Sebastian L., einer der beiden mutmaßlichen Schläger von Solln, die unter Mordverdacht im Gefängnis sitzen, hat Anfang des Jahres für knapp vier Monate in der Jugendpension (Jup) am Kolumbusplatz gewohnt. Helmut Berger, der die Jup leitet und Geschäftsführer des Vereins Wohnhilfe ist, berichtet von den Problemen, die richtige Hilfe für gewaltbereite, süchtige Jugendliche zu finden. Und er räumt ein: Der 17-jährige Sebastian ist durch alle Raster gefallen.

Süddeutsche Zeitung: In die Jup, so heißt es, kommen die Schlimmsten der Schlimmen.

Helmut Berger: Nicht nur. Wir hatten auch schon eine junge Frau, die während ihrer Zeit bei uns das Abitur gemacht hat. Leider schaffen es diese Klienten nicht in die Schlagzeilen. Aber es ist natürlich wahr, dass viele sehr problematische junge Menschen bei uns anlanden.

SZ: Sie selbst haben Sebastian L., einen der beiden mutmaßlichen Schläger von Solln, eine "verlorene Seele" genannt. Sind Sie sicher, in den vier Monaten, die er bei Ihnen war, alles für ihn getan zu haben?

Berger: Es wäre vermessen, sich sicher zu sein, dass wir keine Fehler gemacht haben, und mit "wir" meine ich das gesamte System der Jugendhilfe. Wir müssen uns immer wieder Gedanken machen, was wir hätten besser machen können.

SZ: Es fällt auf, dass nie versucht wurde, Sebastian geschlossen unterzubringen, obwohl er immer wieder abgehauen ist und sich selbst als gewaltbereit einstuft, wenn er unter Alkoholeinfluss steht.

Berger: Es ist zuerst Aufgabe der Eltern oder, wie bei Sebastian, des Vormunds, eine geschlossene Unterbringung gegen seinen Willen zu initiieren. Entscheiden muss es dann das Familiengericht. Ein Mitarbeiter des Jugendamtes könnte die Unterbringung auch anregen.

SZ: Und Sie als Heimbetreiber?

Berger: Ein freier Träger wie wir kann nur eine Empfehlung aussprechen.

SZ: Haben Sie das getan?

Berger: Die Tragweite seiner Drogen- und Alkoholabhängigkeit und die Notwendigkeit einer Behandlung wurde erst wenige Wochen vor seinem Auszug bei uns ärztlicherseits festgestellt, und wir haben erst Tage vor seinem Abschied davon erfahren. Zuvor aber hatten wir im Team schon immer wieder thematisiert, dass eine geschlossene Unterbringung angebracht wäre. Wenn ein junger Mann als schwer suchtabhängig gilt und infolgedessen als aggressiv, dann ist es an der Zeit zu intervenieren. Aber nach aller Erfahrung macht es bei einem 17-Jährigen keinen Sinn mehr, überhaupt diesen Antrag zu stellen.

SZ: Warum nicht?

Berger: Bis das ganze Procedere durch ist, bis zu einem Gerichtsbeschluss also, vergehen in der Regel Monate. Gar nicht zur reden davon, dass, selbst wenn Sie den Beschluss haben, die entsprechenden Einrichtungen einen Jugendlichen nicht mehr aufnehmen würden, wenn er fast volljährig ist.

SZ: Warum nicht?

Berger: Diese Frage müssen die Einrichtungen selbst beantworten ...

SZ: ... aber Sie haben doch die Erfahrung.

Berger: Die zeigt: Sobald er volljährig ist, könnte der Klient seine Koffer packen und gehen. Er wäre dann also nur ein paar Monate in der Intensivtherapie, die dann erfolglos abgebrochen würde. Und das wollen die Einrichtungen nicht.

SZ: Man hätte Sebastian also schon früher intensiv therapieren müssen?

Berger: Generell ist unsere Erfahrung, dass solche Jugendlichen einer längeren Therapie bedürfen, und sie mit 14 oder 15 wesentlich besser zu erreichen sind. Je älter sie sind, desto öfter haben sie die Erfahrung gemacht, dass das Gerede der Erzieher und Therapeuten zu nichts führt. Und das gilt leider auch für das Thema geschlossene Unterbringung. Das ist in den Augen dieser Jugendlichen eine leere Drohung.

SZ: Das heißt, nur im Gefängnis hätte man Sebastian habhaft werden können.

Berger: Haft ist aber nur die Folge von Straftaten, wir können jemanden, Gott sei Dank, ja nicht präventiv inhaftieren. Es ist nun mal so, dass etwas passiert sein muss, ehe eine Sanktion erfolgen kann.

SZ: München plant eine geschlossene Einrichtung. Wird es dann besser?

Berger: Man ist auf dem richtigen Weg. Aber meines Wissens ist lediglich an eine kurzzeitige Unterbringung gedacht, zum Clearing. Aber lassen Sie mich noch generell etwas dazu sagen: Das Thema geschlossene Unterbringung ist überfrachtet von ideologisierten Vorstellungen. Uns geht es darum, jungen Menschen, die dabei sind, sich körperlich und seelisch massiv zu schädigen, Einhalt zu gebieten. Das geht nur, indem die Gesellschaft sagt: Wir nehmen dich aus deinem Lebenskontext heraus. Das ist kein Allheilmittel, auch kein Knastersatz, es geht um die individuelle Hilfe, die wir solchen Jugendlichen nur in diesem Rahmen zukommen lassen können.

SZ: Sebastian wurde offenbar nie zum Drogenentzug geschickt, warum nicht?

Berger: Wir hätten ihn in eine Klinik schicken wollen, aber er wollte nicht. Ein Jugendlicher muss selbst hingehen, doch die wenigsten schaffen das. Ein Alkohol- und Drogenentzug wäre bei Sebastian jedenfalls indiziert gewesen.

SZ: Zusammengefasst heißt das: Zum Drogenentzug wollte Sebastian nicht freiwillig; für eine geschlossene Unterbringung war er schon zu alt, und fürs Gefängnis hatte er zu wenig angestellt. Ein Junge wie Sebastian fällt also durch alle Raster.

Berger: Das stimmt. Leider.

SZ: Die Helfer haben also monatelang hilflos zugesehen, wie Sebastian immer weiter abrutscht.

Berger: Uns fehlt in vielen Fällen, in denen wir eine seelische und körperliche Fehlentwicklung feststellen, einfach das passende Instrumentarium. Es wäre eine unaufgeregte Diskussion nötig über qualitativ verbesserte Jugendhilfe. Jetzt aber wird das Thema schon wieder im Wahlkampf missbraucht, auf dem Rücken der jungen Menschen, die unsere Hilfe benötigen.

© SZ vom 23.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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