S-Bahn München:Mann wird in der S-Bahn beschimpft, beleidigt - und allein gelassen

S-Bahn München: Das Hinweisschild der Bundespolizei in der S-Bahn - leider bringt ein Anruf unter dieser Nummer gar keine schnelle Hilfe.

Das Hinweisschild der Bundespolizei in der S-Bahn - leider bringt ein Anruf unter dieser Nummer gar keine schnelle Hilfe.

(Foto: Robert Haas)
  • Eine 0800-Nummer verspricht in den Münchner S-Bahnen direkte und kostenlose Verbindung zur Bundespolizei und vor allem: schnelle Hilfe in Notlagen.
  • Als ein Mann in der S-Bahn bedroht wird, verlässt er sich darauf - wartet aber vergeblich.
  • Dass er die "110" hätte wählen müssen, erfährt er erst viel später.

Von Martin Bernstein

Im vergangenen Jahr registrierte die für Sicherheit in Zügen und an Bahnhöfen zuständige Bundespolizei in München 512 Körperverletzungsdelikte, 216 Beleidigungen und zwölf Bedrohungssituationen. "Aufmerksamkeit zahlt sich aus!" verheißt das schwarze Metallschild, das in jeder S-Bahn neben jeder Tür angebracht ist, direkt über der Notbremse. Eine 0800-Nummer verspricht direkten und kostenlosen Draht zur Bundespolizei und schnelle Hilfe in Notlagen.

Ammar Fetaiti hätte Anfang November diese Hilfe gebraucht, als er in einer S6 bedroht und beleidigt wurde. Dreimal rief er die vermeintliche Notrufnummer an. Doch die Hilfe blieb aus. Fetaitis Notruf aus der Münchner S-Bahn versandete im Lagezentrum der Bundespolizei in Potsdam.

Der 5. November ist ein Samstag. Es ist 10.42 Uhr, als Ammar Fetaiti am Ostbahnhof in eine S6 steigt. Der Philosophie-Dozent will zum Hauptbahnhof fahren. Der Waggon, in dem der 55-Jährige sitzt, ist leer. Noch. Der Münchner schreibt gerade seine Telefonnummer in seine Zug-Monatskarte, als acht oder neun jüngere Leute, unter ihnen auch Frauen, hereinkommen. "Einer von ihnen hat mich sofort mit einem Bierdeckel beworfen", erzählt Fetaiti. Als der 55-Jährige fragt, was das soll, reißt ihm ein anderer den Stift aus der Hand und sticht mit ihm nach Fetaiti. Dann prasseln Beschimpfungen und Beleidigungen auf den Fahrgast ein. Besonders zwei junge Männer um die 25 tun sich dabei hervor, zeigen Fetaiti den Mittelfinger.

"Ich fühlte mich zutiefst bedroht," erzählt der Münchner. "Daher habe ich meinen Platz sofort verlassen und nach einer Notrufnummer der Polizei gesucht." Sein Blick fällt auf das Schild neben der Tür. "Sie oder andere Reisende werden bedroht oder belästigt?" steht dort. Und: "Sie benötigen polizeiliche Hilfe? Die Bundespolizei nimmt Ihren Anruf kostenfrei entgegen." Darunter die Nummer, die schnelle Hilfe verspricht: 08006888000. Ein bisschen kompliziert für eine mutmaßliche Notrufnummer, aber so steht es eben da.

Ammar Fetaiti wählt die Nummer, während die Gruppe weiter pöbelt. Was er nicht weiß: Sein Anruf landet nicht etwa bei der Bundespolizeiinspektion am Münchner Hauptbahnhof oder deren Dependance am Ostbahnhof. Fetaitis Gesprächspartner sitzt in Potsdam, in der Zentrale der Bundespolizei. Dieser macht noch dazu auf Fetaiti einen eher desinteressierten Eindruck. Der Münchner schildert, wo er ist und wie er bedrängt wird. Er bittet um schnelle Hilfe. Der 55-Jährige hofft, dass nun jeden Moment Bundespolizisten zusteigen und die Situation klären. Doch nichts passiert.

Die Angreifer beleidigen ihn weiter, werfen Bierdeckel und Brezenstücke. Nach drei Minuten wählt Fetaiti die Nummer erneut. Doch da habe niemand mehr abgehoben. Zwei Minuten später versucht er es noch einmal. Wieder nichts. Am Hauptbahnhof ist Fetaiti inzwischen vorbei, er hat bis zuletzt auf Hilfe gewartet - die auf den Schildern in den S-Bahnen ja explizit versprochen wird. Station für Station erfüllt sich seine Hoffnung aber nicht, dass Polizisten kommen. An der Hackerbrücke verlässt Fetaiti fluchtartig den Zug. Noch am gleichen Tag geht er zur Bundespolizei und stellt Strafantrag gegen Unbekannt.

Schnelle Hilfe gibt es - aber nicht unter dieser Nummer

Wolfgang Hauner, Sprecher der Bundespolizeiinspektion am Münchner Hauptbahnhof, bestätigt den Vorfall. Hauner empfiehlt, in derartigen Fällen "und immer wenn sofort polizeiliche Hilfe notwendig erscheint, unverzüglich die 110 zu wählen". Die in den S-Bahnzügen angebrachte Servicenummer der Bundespolizei sei zwar eine Hotline, aber nur für grundsätzliche Mitteilungen gedacht.

"Beim Wählen der Nummer landet man in einer Einsatzzentrale der Bundespolizei in Potsdam, die gegebenenfalls von dort weitere Maßnahmen wie zum Beispiel die Verständigung der örtlichen Inspektion veranlasst." Doch genau das ist nach Ammar Fetaitis Notruf offenbar nicht passiert. Wo dessen Mitteilung möglicherweise hängen blieb - und warum -, versucht die Bundespolizei in Potsdam derzeit zu klären. Bis Sonntag lag noch keine Antwort vor.

Für den Münchner Philosophie-Dozenten steht fest, "dass die Angabe einer derartigen Nummer lediglich für die Vitrine war". Tatsächlich ist die vermeintliche Notrufnummer eben keine. Auf der Homepage der Bundespolizei wird ihr Zweck so erklärt: "Für die polizeiliche Arbeit sind Hinweise aus der Bevölkerung oft sehr hilfreich. Haben Sie Beobachtungen gemacht, die von polizeilichem Interesse sein könnten, so teilen Sie uns diese bitte mit." In dringenden Fällen sei jedoch immer der polizeiliche Notruf 110 zu wählen. Das geht aus den Schildern in den Zügen aber nicht hervor. Trotzdem ist nicht geplant, diese zu verändern oder abzunehmen. Sie können weiter für Missverständnisse sorgen.

"Gegebenenfalls folgen Ihrem Hinweis polizeiliche Maßnahmen", schreibt die Bundespolizei auf ihrer Internetseite. Ammar Fetaiti wäre froh gewesen, wenn das der Fall gewesen wäre.

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