S-Bahn-Mord von Solln:Ein Held bleibt ein Held

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Eine verhängnisvolle Debatte: Plötzlich wird das Verhalten von Dominik Brunner posthum kritisiert. Dabei wird die Zivilcourage in ein schlechtes Licht gerückt.

Kai Jonas

Derzeit wird der Prozess gegen die Jugendlichen vorbereitet, die Dominik Brunner getötet haben. Erste Informationen über den Tathergang, insbesondere eine Zeugenaussage, er habe zuerst zugeschlagen, haben in einigen Medien zu einer kritischen Sicht auf das Verhalten Brunners geführt.

Ist und bleibt ein Vorbild in Sachen Zivilcourage: Dominik Brunner. (Foto: Foto: ddp)

Dabei wird auch ein Mensch mit einer Teilschuld beladen, der sich selbst nicht mehr äußern kann - und sein Verhalten als Ganzes wird dadurch abgewertet. Das Ziel dieser Debatte bleibt im Unklaren. Wenn aber ein Held in Zweifel gezogen wird, führt dies keinesfalls zu dem, was eigentlich gewünscht ist: dass es mehr Zivilcourage gibt.

Die juristische Aufarbeitung des Tötungsdelikts ist unverzichtbar. Dabei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass es vor Gericht nicht um eine moralische Bewertung des Verhaltens von Dominik Brunner geht. Gerichte müssen eine möglichst genaue Rekonstruktion der Vorgänge leisten. Verteidiger haben die Motivation, für ihre Mandanten ein möglichst günstiges Urteil zu erreichen.

Für die zwei angeklagten Jugendlichen ist es von entscheidender Bedeutung, ob sie wegen Mordes verurteilt werden. Davon wird ihr Strafmaß abhängen. Zur Klärung dieser Frage mag es relevant sein, ob der Manager zuerst zugeschlagen hat oder nicht. Wenn jedoch eine solche juristische Frage nun das Gesamtbild von Brunner prägt, wird das Bild des verantwortungsbewussten Mannes beschädigt, ob aus Mutwillen oder aus Unbedarftheit.

Brunner hat den höchsten Preis bezahlt

Die Fakten bleiben doch bestehen: Kinder wurden von Jugendlichen massiv bedroht, zu wenige Menschen haben schützend eingegriffen und es blieb ein Einzelner übrig, der, rückblickend betrachtet, die Situation nicht alleine auflösen konnte. Für seine Entscheidung, die Kinder zu schützen und sich den Tätern entgegenzustellen, hat er den höchsten Preis bezahlt.

Wer heute Dominik Brunner für seinen Lösungsversuch kritisiert, muss eigentlich vor allem diejenigen kritisieren, die damals nicht eingegriffen haben - oder sich darauf verließen, dass die Situation wohl unkritisch und ein Helfer ausreichend sei. Hätte Dominik Brunner mehr Unterstützer gehabt, wäre es wahrscheinlich nicht zu dieser Eskalation gekommen.

Ob der Manager nun wirklich zuerst zugeschlagen hat oder nicht, ist für die öffentliche Debatte über Zivilcourage eigentlich von geringer Bedeutung. Er befand sich in Not. Er musste schnell handeln. Anzunehmen ist, dass er dies nach bestem Wissen und im Rahmen seiner Möglichkeiten tat. Bevor jemand nun sein Verhalten kritisiert, sollte man erst einmal Verständnis für die Komplexität solcher Situationen entwickeln.

Im Moment solcher Bedrohung stellt sich nicht die Frage nach angemessenen, kochbuchartigen Rezepten und Reaktionen, die zudem frei von juristischen Konsequenzen sind. Alle Analysen von Interventionen, die durch Zivilcourage ausgelöst wurden, zeigen: Es lässt sich immer etwas finden, das im Nachhinein hätte besser gemacht werden können. Aber darum kann es doch hier nicht gehen, darum darf es nicht gehen. Solche Haarspaltereien schrecken andere Bürger nur ab, künftig selber Zivilcourage zu zeigen.

Zudem stellt sich noch eine ganz andere Frage: Auf welcher Faktenbasis wird das Verhalten von Dominik Brunner eigentlich kritisiert? Die Forschung zur Konsistenz von Zeugenaussagen weist immer wieder darauf hin, wie oft sowohl Wahrnehmungen als auch Erinnerungen von Zeugen verzerrt sind. Ohne deren Wert in Zweifel zu ziehen, weder im Allgemeinen noch in diesem speziellen Fall: Einzelaussagen, die vor Prozessbeginn publik werden, dürfen nicht dazu führen, dass nun die grundsätzlich richtige Motivation Brunners bezweifelt wird - es ging ihm allein darum, die Kinder zu schützen.

Welchen Wert die Zeugen hier tatsächlich haben, müssen am Ende die Richter sagen; ein Vorweg-Urteil durch die Öffentlichkeit aber wäre ein Skandal. Ganz abgesehen davon, dass eine angemessene körperliche Verteidigung durch die Notwehr-Paragraphen 32 bis 35 des Strafgesetzbuches gedeckt ist.

Kai Jonas fordert Trainings in Zivilcourage. (Foto: Foto: Huizinga)

In München hat es in den vergangenen Monaten zwei Plakataktionen gegeben. Der Präsident des FC Bayern, Uli Hoeneß, sowie der Verein Lichterkette, der im Jahr 1992 fast eine halbe Million Menschen auf die Straße brachte, forderten darin die Bürger zu mehr Zivilcourage auf, und sie verbreiteten Regeln fürs Eingreifen. "Sprechen Sie andere Personen direkt an", hieß es zum Beispiel auf den Lichterkette-Plakaten, "Lenken Sie die Täter ab."

Das sind einerseits wichtige Schritte, um Zivilcourage zu fördern. Das Problem aber bleibt, dass gewaltlose Interventionen nicht immer wirken, dass Polizei und Rettungskräfte nicht immer schnell genug am Ort sein können und dass manchmal der Einsatz von körperlicher Gewalt die einzige Lösung zu sein scheint. Dies mit allen Konsequenzen abzuwägen, erfordert besondere Motivation sowie Kompetenzen, die nicht von heute auf morgen zu erlernen oder gar zu verbreiten sind.

Es sollte Trainings in Zivilcourage geben

Denn zivilcouragiertes Verhalten bleibt immer zu einem gewissen Teil risikobehaftet, Zivilcourage light kann es schließlich nicht geben. Kinder müssen das richtige Verhalten daher schon in Schulen lernen, und für Erwachsene muss es Trainings in Zivilcourage geben. Eine nachträgliche, kritischere Bewertung des Eingreifens von Dominik Brunner darf im Grunde nur diese eine Folge haben: dass endlich systematisch damit begonnen wird, die Bürger besser auf solche Situationen und gefahrloseres Eingreifen vorzubereiten.

Flächendeckend muss es Trainings in Zivilcourage geben. Nur sie vermitteln Menschen die Kompetenz, wie sie sich in vergleichbaren Situationen verhalten sollen. Nur solche Trainings verringern auch die Wahrscheinlichkeit von Interventionen, die den Helfer selbst gefährden.

Die beginnende juristische und mediale Bewertung des Verhaltens von Dominik Brunner zeigt aber noch etwas anderes: Radikale Interventionen von zufällig Anwesenden mögen zwar von Scharfmachern oft propagiert werden. Dennoch sind sie in einem Rechtsstaat und einer Mediengesellschaft für die Eingreifenden keinesfalls frei von Konsequenzen.

Auch diese Gefahr wird für den Helfer umso geringer sein, je geschulter, je professioneller also seine Intervention ist. Es kann doch nicht sein, dass sich ein Helfer auch noch dem Risiko aussetzt, im Nachhinein juristisch oder öffentlich abgestraft zu werden. Wer Zivilcourage fördern will, der hat in Dominik Brunner weiterhin ein Vorbild.

Kai Jonas, 37, ist Sozialpsychologe an der Universität Amsterdam. Er hat Trainingsprogramme für Zivilcourage entwickelt und arbeitet in München im Verein "Lichterkette" mit.

© SZ vom 12.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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