Rettungsdienste:Wer Leben rettet, ist nicht unsterblich

Schießerei in München

Amoklauf im Juli 2016: Krankenwagen stehen in der Nähe des Olympia-Einkaufszentrums in München - zu diesem Zeitpunkt war die Lage noch völlig unübersichtlich.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Bei Anschlägen und Amokläufen stehen Sanitäter vor dem Dilemma, dass sie Verletzten schnellstmöglich helfen wollen, sich dabei aber eventuell selbst in Gefahr begeben.
  • Schon beim Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum mussten Polizisten Sanitäter aus dem gefährdeten Bereich zurückschicken.
  • Das Medizinische Katastrophen-Hilfswerk in München warnt: Für solche Gefahrensituationen seien die Rettungskräfte nicht ausreichend ausgebildet und ausgestattet.

Von Thomas Schmidt

Nur weil man Leben rettet, ist man nicht unsterblich. Ein Krankenwagen schützt nicht vor Gewehrkugeln. Ein Notarzt-Schriftzug auf der Jacke mildert nicht die Wucht eines Sprengsatzes. Paris. Brüssel. Nizza. Zuletzt Berlin. Und ja, auch München. Terroranschläge und Amokläufe fordern Rettungskräfte, Sanitäter und Feuerwehren weltweit auf eine neue Art. Eine gefährliche. Denn ein Anschlag ist kein Verkehrsunfall. Einsatzregeln und Abläufe, jahrzehntelang bewährt, müssen neu gedacht werden. "Wir müssen uns eingestehen", sagt Robert Schmitt, Präsident des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks (MHW), "das sind Situationen, auf die wir nicht ausreichend vorbereitet sind."

Der Katastrophenschutz - nicht vorbereitet? Der 52-jährige Schmitt ist ein gestandener Münchner, bei Großlagen wie dem Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum wird er von der Landeshauptstadt als "Organisatorischer Leiter" eingesetzt. Er hat schon viel Leid gesehen. Aber zurzeit beschäftigen ihn Fragen, die ihm den Schlaf rauben. Die alten Konzepte sind für die neuen Bedrohungen nicht geeignet.

Bei Großeinsätzen gilt die Regel: Zuerst müssen Verletzte an Ort und Stelle stabilisiert werden. Das kann dauern, einer Viertelstunde, eine halbe Stunde. Auch länger. Erst wenn der Patient "transportfähig" ist, wird er in einen Rettungswagen gehoben und in eine Klinik gefahren. Dieses bewährte, den Rettungskräften in Fleisch und Blut übergegangene Vorgehen, kann bei Anschlägen zur tödlichen Falle werden.

Man stelle sich vor, der Berliner Attentäter hätte eine Bombe im Lastwagen deponiert, die explodiert, während Notärzte direkt daneben Verletzte stabilisieren. Oder was geschehen wäre, wenn der Münchner Amokläufer noch durch das OEZ gestreift wäre, während dort Retter Schusswunden abbinden? "Beim OEZ-Einsatz waren Rettungskräfte im Gefahrenbereich, wo sie eigentlich nicht hingehören", so der frühere Kreisverwaltungsreferent Wilfried Blume-Beyerle, der Vorsitzender des MHW-Kuratoriums ist. "An diesem Tag", fügt Schmitt an, "gab es viele Einsatzkräfte, die echt Angst hatten."

Neue Szenarien verlangen neue Regeln. Fachleute sprechen von "Load and Go" oder auch von "Scoop and Run". Dabei werden vor Ort kaum medizinische Maßnahmen gesetzt. Stattdessen werden die Opfer so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone heraus in einen Krankenwagen gebracht und weggefahren. Dadurch sinkt das Risiko, dass Rettungskräfte und Patienten in Gefahr geraten. "Während des Einsatzes droht vielleicht ein zweiter Anschlag", sagt Blume-Beyerle. Erfahrungen aus anderen Ländern haben gezeigt, dass es deswegen gefährlich sein kann, alle Einsatzfahrzeuge eng beieinander zu parken.

Wenn auf Retter geschossen werden könnte

Das alles sind furchtbare Gedanken, aber Schmitt und Blume-Beyerle müssen sie denken. Der OEZ-Einsatz habe "gut funktioniert", sagt Schmitt. "Aber was passiert, wenn wir es mit Profis zu tun bekommen? Paris wäre eine andere Nummer gewesen." Die Terroranschläge dort haben vielen die Augen geöffnet. Damals ist auch dem bayerischen Innenministerium klar geworden, dass etwas getan werden muss. Ein Dreivierteljahr nach Paris hatte das Ministerium ein Papier parat mit dem sperrigen Titel "Handlungsempfehlungen für Rettungsdiensteinsätze bei besonderen Einsatzlagen/Terrorlagen", kurz: "Rebel".

"Rebel" ist strukturiert, ausführlich. Und an einigen Stellen bekommt man beim Lesen ein beklemmendes Gefühl. Zum Beispiel bei der "ALERT"-Faustregel, nach der man potenzielle Attentäter einschätzen soll. Ist der Verdächtige "A: Allein und nervös?" Trägt er "L: Lockere Kleidung? E: Sichtbare Elektronik?" Ist sein "R: Rumpf steif wirkend?" Und sind seine "T: Trigger - Hände fest geschlossen?" Eine Checkliste des Grauens.

In dem Papier werden auch Verletzungsbilder aufgelistet, wie sie bei Anschlägen oft auftreten - und welche medizintechnische Ausrüstung notwendig ist, um sie zu behandeln. Tourniquets beispielsweise wurden früher eigentlich nur vom Militär zum Abbinden von Blutungen benutzt. Jetzt halten sie auch Einzug in zivile Krankenwagen und Polizeifahrzeuge. Von "Load and Go" ist in dem Papier allerdings keine Rede. Stattdessen wird empfohlen, auch bei besonderen Einsatzlagen die bekannten Verfahren anzuwenden. An den einzelnen Rettungsstrategien werde noch gearbeitet, heißt es aus dem Ministerium.

"Wir dürfen keine Zeit verlieren", mahnt Schmitt. "Wir haben es jetzt mit Situationen zu tun, bei denen auf uns geschossen werden könnte." München sei nicht Israel, "unsere Rettungskräfte haben keine militärische Ausbildung". In Gefahr begeben sie sich trotzdem. Im Einsatz, so erklärt der Einsatzleiter, unterscheide man zwischen einer "heißen Zone" (es wird geschossen), einer "warmen Zone" (es kann geschossen werden) und einer "kalten Zone" (es ist sicher). Eigentlich sollten Rettungskräfte nur in kalten Zonen operieren, "aber das ist Theorie", sagt Blume-Beyerle. Welcher Notarzt kann schon tatenlos zusehen, wenn in 20 Metern Entfernung ein Mensch verblutet? Das Dilemma wurde auch beim OEZ-Amoklauf offenbar, als Polizeikräfte Sanitäter, die schon im McDonald's waren, wieder rausschickten, weil es dort nicht sicher schien.

"Eigentlich müsste die Polizei die Opfer stabilisieren und rausholen", sagt Blume-Beyerle. "Aber für diese völlig neue Aufgabe ist sie - mit wenigen Ausnahmen - weder ausreichend ausgerüstet noch ausgebildet." Genau darüber könnte man aber nachdenken, findet der ehemalige KVR-Chef: Polizeikräfte für medizinische Notmaßnahmen auszubilden.

Schließlich hätten Polizisten eine Schutzausrüstung und wüssten, wie man sich in einer Gefahrensituation verhalte. Das Militär habe ja auch eigene Sanitäter. Zumindest eines der Probleme ließe sich recht einfach lösen. Die Ausbildung von Rettungskräften für den Fall von Terroranschlägen dauert laut Schmitt gerade mal zwei Tage. "Es ist eine lösbare Herausforderung, wenn man sich nur auf den Weg machen würde", sagt er. Das Medizinische Katastrophen-Hilfswerk habe bereits damit begonnen.

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