Restaurant Tantris:Das Versprechen der Vollkommenheit

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Ein Mittag in der Küche des Tantris: Unter dem strengen Blick des Spitzenkochs Hans Haas schuftet der Nachwuchs für die eigene Karriere.

Nadja Wick

Plötzlich rutscht Martin Kilga das Messer weg. Die Klinge, die gerade noch durch den Körper des Wolfsbarschs glitt, schneidet in den linken kleinen Finger von Alfons Maier. Kurz starren die beiden Nachwuchsköche sprachlos auf das Blut, das aus dem Finger quillt. Dann schnappt sich Maier ein Papiertuch und drückt die Wunde zu.

Die jungen Köche lernen bei Tantris-Küchenchef Hans Haas nie aus. (Foto: Foto: Stephan Rumpf)

"Dafür musst du mir heute Abend einen ausgeben", sagt er mit gespielter Empörung zu Kilga. Der lacht und verspricht ein Bier. Es ist ein etwas gezwungenes Lachen, denn solche Fehler passieren dem 24-Jährigen normalerweise nicht. Doch an diesem Tag wird es nicht sein letztes Missgeschick sein.

Spitzenkoch Hans Haas hat den Zwischenfall bemerkt. In seiner Küche ist jetzt aber keine Zeit für Unfälle. Es ist Samstagmittag, 12.05 Uhr. Im Tantris treffen die ersten Gäste ein. "Hol' dir ein Pflaster und gib' Gas", sagt Haas nach einem Blick auf die Wunde. Nicht herrisch, er sagt es freundlich, fast väterlich. Ihn bringt so schnell nichts aus der Ruhe.

Dabei muss er als Küchenchef Tag für Tag ein gewichtiges Versprechen einlösen: das Versprechen der Vollkommenheit. Das Tantris ist die beste Adresse in München. Meisterkoch Eckart Witzigmann war bei der Eröffnung vor 35 Jahren der erste Küchenchef; seitdem wird das Lokal Jahr für Jahr von den wichtigsten Gourmet-Führern empfohlen. Es hat zwei Michelin-Sterne, die gilt es zu halten. Für Haas kein leichtes Erbe.

200 Euro fürs Menü

Zumal die Kritiker des Restaurant-Führers Gault Millau ausgerechnet jetzt, im Jubiläumsjahr, von der versprochenen Vollkommenheit nicht überzeugt waren. Das Tantris ist von 19 auf 18 Punkte abgerutscht, 20 wären möglich. Das hat Haas gewurmt, er fand die Kritik nicht gerecht.

Aber der 50-Jährige gibt sich auch hier gelassen. Bei der Arbeit, sagt er, denke er fast nie an Sterne oder Punkte: "Ich bin zufrieden, wenn meine Gäste zufrieden sind."

Die Gäste erwarten das perfekte Essen, das perfekte Ambiente, den perfekten Service. Das hat seinen Preis. Für die Gourmets, die bis zu 200 Euro pro Menü zahlen, aber auch für das Team: Bis zu 16 Stunden arbeiten sie täglich. Das ist nur etwas für zähe Burschen, deshalb sind in der Küche fast ausschließlich junge Männer unter dreißig beschäftigt. Die meisten träumen von einer Karriere als Spitzenkoch. Das Tantris macht sich gut im Lebenslauf.

Schon dreieinhalb Stunden vor dem kleinen Unfall sind die 13 Köche und zwei Köchinnen angetreten, um das Mittagsmenü vorzubereiten. Seitdem wird in der Patisserie Strudelteig ausgerollt, werden Heidelbeertarte, Cassisparfait und Mandelsoufflé zubereitet.

In der Hauptküche setzt Martin Kilga in wäschetrommelgroßen Töpfen die Saucen für die Dorade, den Steinbutt und die anderen Fischgerichte an. Am Herd neben ihm verfeinert der 28-jährige Alexander Roisch die Rehsauce mit Port- und Rotwein. Ein anderer Koch formt aus Pastateig eine kleine Ravioli-Armee.

Hans Haas ist immer mittendrin. Er schmeckt die Saucen ab, kostet von der Vorspeise. Bei den Ravioli bleibt er hängen: "Da musst du mehr Teig nehmen. Die müssen gut zu sein", rät er dem Koch und drückt auf einer Teigtasche rum. "Okay, Chef", sagt der junge Mann. Niemand sagt hier "Herr Haas". Der Chef ist einfach "der Chef".

Mitten im Trubel klopft dem Chef ein Techniker auf die Schulter. "Die Gläserspülmaschine läuft wieder", verkündet er, dank einer externen Pumpe. Das eigentliche Problem sei aber nicht gefunden. Haas nickt. Der Laden läuft. Das ist alles, was zählt.

Wenig später ist die Küche plötzlich verwaist. Es ist elf Uhr, die Edelstahlflächen sind blitzblank geputzt, der Fußboden geschrubbt. Aus einigen Töpfen dringt ein bisschen Dampf, in der Luft hängt der Duft der Saucen. Die Köche haben die vorbereiteten Speisen im Kühlraum verstaut und sind zum Mitarbeiteressen gegangen. Sie stärken sich für das, was noch kommt.

Hans Haas isst nicht mit. Er bespricht mit dem Servicepersonal das Menü, erklärt, welches Gericht mit welchen Zutaten zubereitet wird. "Es gibt nichts Schlimmeres als Ober, die nicht erklären können, woraus die Gerichte gemacht sind", sagt er.

Die acht Kellner und Kellnerinnen sollen die Botschafter der Perfektion sein. Nach der Besprechung setzt sich der Chef in sein Büro und schreibt die Menükarte. Per Hand, in geschwungenen Buchstaben. Die Gäste mögen die persönliche Note.

Um 11.45 Uhr sind die Köche wieder auf ihren Posten. In der Boucherie mühen sich zwei junge Männer mit einem Spanferkel ab. Der Chef kommt vorbei, greift zum Messer und zeigt, wie man die Schulter abschneidet. Dann legt er das Tier an die Tischkante und bricht die Rippen durch. Knack, knack, knack. "Jetzt du", sagt er zu einem der Köche.

Da steht der Techniker wieder vor ihm: "Jetzt zieht keine der Spülmaschinen mehr Wasser, ich weiß auch nicht, woran das liegt." Zum ersten Mal scheint Haas einen Teil seiner Gelassenheit einzubüßen. "Das ist ja eine Katastrophe", murmelt er. Ein Samstag ohne Spülmaschine wäre ein Drama.

Die Ursachenforschung muss Haas aber dem Techniker überlassen; er wird am Pass gebraucht. Das ist die Durchreiche zwischen Küche und Servicebereich. Hier kommen die Bestellungen rein, hier koordiniert der Küchenchef die Abläufe, hier gehen die Teller raus. Der Pass funktioniert wie eine Grenze, Haas ist der Zollbeamte. Kein Gericht darf durch, ohne dass er sein Placet gibt.

Um 12.10 Uhr kommt die erste Bestellung rein. "Eins - eins", spricht Haas in ein Mikrofon, damit auch die Mitarbeiter in der Patisserie und der Boucherie hören, was zu tun ist. "Oui", rufen die Köche nacheinander - Auftragsbestätigung auf Französisch.

"Es dauert eine Weile, bis man die Codes hier versteht", sagt Alfons Maier, dessen kleiner Finger mittlerweile in einem kondomähnlichen Gummiverband steckt. "Eins - eins bedeutet: von jeder Vorspeise des kleinen Menüs eine." Der 22-Jährige mit den dunklen Locken ist erst seit drei Monaten dabei. Er ist als voll ausgebildeter Koch ins Tantris gekommen, denn Lehrlinge gibt es hier nicht. Die könnten die Qualität gefährden.

Maier ist begeistert von seinem Job: "Wir arbeiten hier mit so hochwertigen Zutaten, das ist der reine Wahnsinn", sagt er. Und auch wenn der Job manchmal anstrengend sei - irgendwann werde er sich schon auszahlen.

Noch ist das nicht der Fall. Da Maier gerade erst eingestiegen ist, bekommt er am Monatsende etwa tausend Euro netto. Ihm mache das nichts aus, sagt er. Kochen sei seine Passion.

Der Chef ruft seiner Mannschaft jetzt in immer kürzeren Abständen die Bestellungen zu. In der engen Küche mit den orangefarbenen Siebziger-Jahre-Fliesen herrscht Hochbetrieb, obwohl die Köche sagen, es sei verhältnismäßig wenig los.

200 Teller müssen heute Mittag über den Pass, abends sind es oft tausend. "Die Spülmaschine", meldet der Techniker endlich, "läuft wieder." Irgendjemand hatte den Haupthahn zugedreht. Haas lächelt erleichtert. Wieder alles im Plan.

Draußen, im Speisesaal, sind 15 Tische besetzt. Die Gäste genießen Rehrücken-Medaillons mit glasierten Feigen oder Dorade mit Hummer und Krustentierravioli. Die Gespräche sind vornehm gedämpft, im Hintergrund läuft die Air aus Bachs Suite Nr. 3 in D-Dur.

Am Pass gibt es derweil einen kleinen Stau. "Umbauen!", ruft Haas. In einer Fischsuppe ist Eiweiß ausgeflockt. Hektisch schütten die Köche die Suppe neu auf. Martin Kilga weiß, dass es sein Fehler war. Er hat den Fisch etwas zu lang erhitzt, dadurch ist Eiweiß ausgetreten. Das kann passieren.

Kilga ist ein exzellenter Koch, deshalb ist er auch verantwortlich für den Fisch. Nur heute ist er nicht ganz bei der Sache. An seinem Arbeitsplatz sind es weit über 30 Grad, ihm steht der Schweiß auf der Stirn.

Plötzlicher Migräneanfall

"Zwei Lamm, drei Reh, einmal Langustine", ruft der Chef ins Mikrofon. Kilga stützt sich auf die Arbeitsfläche, sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Der 24-Jährige hat einen Migräne-Anfall. "Passiert schon mal", sagt er. "Ist in einer Viertelstunde vorbei."

Der junge Koch will sich nichts anmerken lassen, nimmt eine Tablette. Schlappmachen gibt es für ihn nicht. Sein Arzt, sagt er, könne die Ursache für die Schmerzen nicht feststellen. Stress sei nicht ausgeschlossen.

Hans Haas wirkt, als könne ihm die tägliche Belastung nichts anhaben. Es seien seine Frau und seine beiden Kinder, die ihm Kraft gäben, sagt er. Mit ihnen macht er Sport, rast auf dem Mountainbike die Berge hoch. Wenn er sehr viel Zeit hat, zeichnet er oder entwirft Skulpturen. So setzt er einen zweiten Schwerpunkt außerhalb seiner Arbeit im Tantris.

Der Spitzenkoch Bernard Loiseau aus Burgund zum Beispiel hatte dieses zweite Leben offenbar nicht. Nach dem Verlust zweier Gault-Millau-Punkten beging er Selbstmord.

Nach 14.30 Uhr werden die Bestellungen im Tantris weniger. Jetzt kommen immer häufiger die Köche aus der Patisserie an den Pass. Es duftet nach Schokolade und heißen Früchten. Die Kellner tragen die Desserts auf großen silbernen Tabletts davon. Eine Stunde später sieht die Küche wieder aus wie neu. Abermals haben die Mitarbeiter ihre Arbeitsbereiche geschrubbt.

Jetzt ist Pause bis 17 Uhr. Die meisten Köche wohnen in einem Wohnheim um die Ecke. "Ich werde mich gleich eine Stunde hinlegen, um den Abend zu überstehen", sagt Maier.

Damit meint er nicht nur die nächste Schicht bis null Uhr. Er meint auch die Nacht. Die jungen Männer wollen nach der Arbeit noch ausgehen, wahrscheinlich in die Diskothek. Schließlich hat Maier noch ein Bier gut. Weggehen sei der beste Ausgleich zu den stressigen Tagen in der Küche, findet auch Kilga: "Sonst wirst du hier verrückt!"

© SZ vom 6. November 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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