OEZ:War die Tat von David S. ein Amoklauf oder ein Anschlag?

Gedenkort Amoklauf im Juli 2016 in München, 2016

Der Gedenkort an die neun Opfer vom Amoklauf am 22. Juli 2016 am Tatort vor dem Olympia-Einkaufszentrum in München.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Ermittler sehen vor allem Mobbingerfahrungen als Auslöser für die Bluttat am OEZ in München. Doch David S. gilt auch als Rechtsextremist. Spielte Ideologie als Motiv eine Rolle?

Von Martin Bernstein

War es ein Amoklauf? Oder ein Anschlag? Schoss David S. am 22. Juli vergangenen Jahres am Olympia-Einkaufszentrum in München wahllos auf Menschen? Oder suchte er seine Opfer gezielt nach deren Herkunft aus? Ermordete der Münchner Schüler neun ihm zuvor unbekannte Menschen ausschließlich als Rache für erlittenes Mobbing? Oder hatte er bei seiner Tat auch ideologische Motive?

David S. bleibt Antworten auf diese Fragen schuldig, er hat sich nach der Bluttat selbst erschossen. Doch der 32-jährige Marburger, der die Waffe lieferte, steht seit Ende August vor Gericht. "Für mich persönlich steht fest, dass der Angeklagte eine rechte Gesinnung hat", sagte Staatsanwalt Florian Weinzierl in der Verhandlung über den Marburger.

Auch David S. gilt nach Abschluss der Ermittlungen als Rechtsextremist. Anwälte der Opferfamilien wiesen im Prozess mehrfach auf Zusammenhänge und Parallelen hin. CSU-Stadtrat Marian Offman fragte bereits im Mai: "Wie, auf welchem Weg und durch wen vermochte rassistisches und rechtsradikales Gedankengut den Amoklauf auszulösen?" Die wichtigsten Fragen im Überblick - und welche Antworten es bisher darauf gibt.

War David S. Rassist?

"Ich bin Deutscher", schrie David S. am Tattag um 17.59 Uhr auf dem Dach des OEZ-Parkhauses, nachdem er neun Menschen getötet hatte. "Ich bin hier geboren worden." Die Familie des Münchner Attentäters stammt aus dem Iran. Es gibt eine Zeugenaussage aus dem Familienkreis, nach der David S. sehr stolz auf seine persischen Wurzeln, aber auch auf seine deutsche Staatsangehörigkeit gewesen sei. S. sah den Ursprung der "Arier" im Iran. Aufgrund seiner Mobbing-Erfahrungen hasste er türkisch- und balkanstämmige Menschen.

Fast alle Opfer des Anschlags vom 22. Juli gehören dieser Bevölkerungsgruppe an. Das war kein Zufall, David S. ging mehrfach durch den McDonald's an der Hanauer Straße und eröffnete das Feuer erst, als sechs Jugendliche beisammensaßen, die diesem Muster entsprachen. Noch bei seinem letzten Mord im OEZ erschoss S. einen jungen Mann aus dem Kosovo gezielt von hinten und rief: "Ich bin kein Kanake, ich bin Deutscher." Kurz vor den tödlichen Schüssen am OEZ soll David S. vor einem Bekannten darüber gesprochen haben, ob der Stachus nicht geeigneter wäre. Ursprünglich hatte David S. einen Anschlag auf das Moosacher Jugendzentrum "Boomerang" geplant.

Gibt es ein Bekennerschreiben?

Das letzte Dokument, das David S. am Nachmittag vor der Tat auf seinem Computer speicherte, trägt den Titel "Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen, egal wer". Ermittler halten dieses Dokument für den Abschiedsbrief des Täters. In einem anderen Text von 2015 unter dem Titel "Mein Manifest" schrieb David S. über "ausländische Untermenschen", von "Kakerlaken" und Menschen, die er "exekutieren" werde.

Zu seinem Waffenhändler sagte S. - angeblich im Spaß - er werde, wenn nach dem Urlaub in Österreich noch Munition übrig sei, damit "noch ein paar Kanaken abknallen". Bei seinen rassistischen Äußerungen im Internet steigerte S. sich nach Erkenntnis der Ermittler "in Hasstiraden und Wutausbrüche hinein". Seinen Hass auf türkischstämmige Jugendliche lebte David S. auch in Online-Computerspielen aus, in denen er nach der Erinnerung eines Mitspielers zudem gegen Juden und gegen Israel gehetzt haben soll.

Hatte der Attentäter ein Vorbild?

Amoktäter faszinierten den jungen Münchner, der sich schon im Sommer 2015 von Mitpatienten in der Klinik "Amokläufer Z" nennen ließ. Besonders interessierte David S. sich für die Bluttat von Winnenden, deren Tatort er zweimal besuchte, einmal möglicherweise in Begleitung eines bislang Unbekannten, und für den rechtsradikalen Massenmörder Anders Breivik.

David S. wollte für seine Tat unbedingt eine Waffe des gleichen Typs, wie der 77-fache Mörder Breivik sie auf der norwegischen Insel Utoya benutzt hatte, eine Glock 17. Und er verübte seinen Anschlag am fünften Jahrestag des Massakers von Norwegen. "Ob sich die Verehrung auch auf die politische Einstellung des Breivik oder allein auf dessen mörderische Handlungen bezog", heißt es im Abschlussbericht der Polizei, "konnte durch die Ermittlungen nicht abschließend geklärt werden".

Bewunderte David S. Hitler?

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf. Als 17-Jähriger zeichnete er während eines stationären Krankenhausaufenthalts im Klinikum Harlaching Hakenkreuze, benutzte in einer Therapie den Hitlergruß und rief "Sieg Heil!". Einer Mitpatientin erklärte er, er finde "manche Sachen gut, die Hitler gemacht hat". David S. war am 20. April 1998 als Ali (den Namen ließ er kurz nach seinem 18. Geburtstag offiziell ändern) in München geboren worden. Dass sein Geburtstag auch der Geburtstag Adolf Hitlers war, habe ihn stolz gemacht, berichteten ehemalige Mitschüler. Die Ermittler konnten das jedoch nicht belegen.

Neonazis, mögliche Mitwisser und Rechte in der Darknet-Szene

War David S. Neonazi?

In Davids Zimmer in der Dachauer Straße fanden Ermittler den umstrittenen evangelikalen Roman "Der Neonazi" von Damaris Kofmehl. Beschrieben wird darin die angeblich authentische Geschichte eines Aussteigers aus der österreichischen Neonazi-Szene, der zuvor zahlreiche Verbrechen bis hin zum Mord begangen haben soll.

Das Buch endet damit, dass der frühere Neonazi aus der Szene aussteigt und Christ wird. Nach allem, was man weiß, hatte David S. aber keine Kontakte zu rechtsextremistischen Organisationen oder Gruppen. Er sei kein Nazi, sagte David S. einer Mitpatientin. Es steht aber fest, dass S. im Klinikum Harlaching andere Patienten "mit nationalsozialistischen Symbolen und Phrasen provozierte". Die bayerische Polizei kommt zu dem Schluss: "Insgesamt kann von einer rechten beziehungsweise rechtsextremen Gesinnung des David S. ausgegangen werden."

War David S. politisch aktiv?

Eine "isolierte ideologische Bewertung" der beiden von S. hinterlassenen Bekennerschreiben erfolgte nach Angaben des bayerischen Innenministeriums "mangels Relevanz für das Ermittlungsverfahren nicht". Nach Angaben der Ermittler recherchierte der junge Münchner im Internet nicht nur zu Waffen und Amoktaten, sondern auch über politische Ereignisse und Politiker von SPD, CSU, CDU, den Grünen, der Linken und der AfD.

Im Abschlussbericht der bayerischen Polizei heißt es, David S. "sympathisierte wohl mit den Inhalten des Programms der Partei AfD". Bei seinen Schießübungen im Keller des heimischen Mietshauses zur Vorbereitung des Anschlags filmt sich der 18-Jährige selbst mit der Handy-Kamera. Dabei sagt er: "Ihr habt hier in Deutschland nichts zu suchen, die AfD wird euch alle ausschalten. Ihr seid Kakerlaken."

In einem später rekonstruierten Chat mit einem gewissen "Bastian" soll David S. laut Ermittlungsergebnis eine Art Selbstgespräch am Computer geführt und dabei Lkw-Anschläge angekündigt haben. Darin schreibt der 18-Jährige: "Unsere Gegner sind jetzt Salafisten, Wirtschaftsflüchtlinge, Merkel." Auf einem Foto, das Ermittler in Davids Zimmer fanden, hatte der Münchner Schüler die Köpfe der Grünen-Landtagsabgeordneten Katharina Schulze und des Bund-Naturschutz-Vorsitzenden Christian Hierneis mit Farbstift eingekreist und dazu geschrieben: "Der Tod sucht euch".

Wie rechts ist die Darknet-Szene?

David S. suchte seit 2015 auf der - inzwischen geschlossenen - Darknet-Plattform "Deutschland im Deep Web" (DiDW) nach einer Waffe. In dieser Szene, in der der Münchner Schüler schließlich auf den Waffenhändler Philipp K. stieß, war rechtes Gedankengut salonfähig. In der Szene, so erinnert sich ein überführter Kunde, seien Verschwörungstheoretiker unterwegs und "Leute, die den dritten Weltkrieg prophezeien": "Die Paranoia war allgegenwärtig."

Der illegale Erwerb von Waffen zur Selbstverteidigung galt als legitim. Ein im Waffenforum aktives Ehepaar, dessen Rolle im Münchner Prozess nicht vollständig aufgeklärt werden konnte, fiel den Ermittlern durch "staatsfeindliches Gedankengut" auf. Der Mann soll Sprengstoffanschläge auf staatliche Einrichtungen geplant und eine "Todesliste" geführt haben, er soll ebenso wie David S. den Attentäter Anders Breivik verehrt und seine Kinder an der Waffe für den späteren Kampf ausgebildet haben.

Der 32 Jahre alte Waffenhändler, bei dem David S. die Glock 17 kaufte, kritzelte schon als Schüler Waffen, Panzer und Hakenkreuze. Später nahm er an Skinhead-Treffen teil, die ihm aber bald zu "langweilig" wurden. Der Marburger beendete Chatnachrichten regelmäßig mit dem Hitlergruß, "Sieg Heil" oder "Hitler lebt", hatte Abbildungen zahlreicher NS-Symbole auf seinem Rechner und ein Foto, das ihn in Hitler-Camouflage zeigt. Von seinem besten Freund ließ K. sich als "Führer" zum Geburtstag gratulieren. Im Januar 2016 versuchte er im Internet offenbar erfolglos, das Video zu bekommen, in dem die Terrorgruppe NSU ihre Opfer verhöhnte.

Hatte David S. einen Mitwisser?

Ein Video und mehrere Zeugenaussagen belegen, dass Philipp K. türkische und muslimische Migranten verachtete und sich immer wieder rassistisch äußerte. Doch dass Philipp K. von dem geplanten Anschlag gewusst habe, davon regelrecht "begeistert" gewesen sei und dem Attentäter bei den Treffen in Marburg Tipps gegeben habe, konnte im Prozess bisher nicht belegt werden.

Ein Mann, der sich "blab" nennt und als Sicherheitsberater für Waffenkäufer im Darknet auftrat, hat das in Chats behauptet - doch er ist trotz intensiver Suche ein Phantom geblieben. In der Haft soll Philipp K. einem Mithäftling "als Späßchen" gesagt haben, er werde auf das Mahnmal für die Opfer des OEZ-Anschlags schreiben: "Rico was here." Rico war der Darknet-Tarnname des Waffenhändlers.

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