Serie: Stadt am Rand:Ermordet

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71 Jahre lang hat es gedauert, bis der Mann, der in Pullach Opfer eines Kriegsverbrechens wurde, einen Namen bekam. Susanna Meinl und Markus Mooser haben die Ereignisse des 19. Juli 1944 rekonstruiert

Von Konstantin Kaip, Pullach

Der 19. Juli 1944 ist ein schöner Sommertag, wie Zeitzeugen berichten. In Pullach aber verdunkelt sich der Himmel: Amerikanische Bomber fliegen Angriffe auf die Industrieanlagen von Linde und den Elektrochemischen Werken, Zulieferern der Raketenproduktion. Ein Chronist der Feuerwehr berichtet vom unheimlichen Pfeifen der Sprengbomben und von schwarzen Wolken, die die Gartenstadt einhüllen: "Recht viel schlimmer kann ein Vulkanausbruch nicht sein." Es ist der schwerste Angriff auf Pullach, laut Gemeindearchivar Erwin Deprosse kommen dabei insgesamt 29 Menschen um, darunter neun sowjetische Zwangsarbeiterinnen. Ein 30. Opfer bleibt jedoch in Chroniken lange unerwähnt: ein damals 20-jähriger US-Soldat, dessen Maschine vom Typ B 24 Liberator an anderen Bombenangriffen auf München beteiligt ist und von der deutschen Flak getroffen wird. Er kann sich mit dem Fallschirm retten, den der Wind nach Süden an die Pullacher Ortsgrenze trägt. Dort wird er von drei NSDAP-Funktionären aufgegriffen und erschossen. Es war James M. Greene aus Texas.

71 Jahre lang hat es gedauert, bis der Mann, der in Pullach Opfer eines Kriegsverbrechens wurde, einen Namen bekam. Das ist das Verdienst der Historiker Susanna Meinl und Markus Mooser, die die Ereignisse des 19. Juli 1944 rekonstruiert haben. Was sie herausgefunden haben, stellte Meinl am Freitag im Pullacher Pfarrheim Heilig Geist erstmals öffentlich vor, bei einem Abend, den die Gemeinde und das Geschichtsforum dem Datum gewidmet hatten, "als der Tag zur Nacht wurde".

Meinl fasste zusammen, was sie herausgefunden hatte: Dass die B 24 von Greene mit dem Namen Flying Junior von Italien aus gestartet sei, mit Greene als Bordschützen. Zehn Mann Besatzung hätten die Bomber gehabt, wenige von ihnen älter als 25 Jahre. Zwei Flugzeuge schoss die Flak vom Forstenrieder Park aus ab. Bei Greenes Maschine wurden die Piloten getroffen, nur fünf Crew-Mitglieder konnten abspringen. Greene landete in einem Wäldchen auf dem Areal der Armen Schulschwestern. Sein Fallschirm wurde vom Pullacher Gendarmerieposten beobachtet, der die Verfolgung aufnahm, dann jedoch abbrach, da, so heißt es, "der Abspringer erschossen worden" sei. Mehrere Augenzeugen hätten ein Auto mit drei NSDAP-Funktionären beobachtet, darunter Ortsgruppenleiter Heinrich Gradl, der eine Pistole in der Hand gehabt habe. "Ihr braucht nicht mehr hinaus, den haben wir schon erschossen", soll Gradl gesagt haben. Im Ort wurde Gradl mit der Tat in Verbindung gebracht. US-Soldaten erschlugen ihn nach ihrem Einmarsch am 1. Mai 1945.

Wie tragisch Greenes Schicksal an jenem Tag war, zeigte Meinl auch anhand eines Videointerviews von 2011, in dem sein Crew-Kamerad Gerald Walter unter Tränen berichtet, wie er bewusstlos von einem Kameraden aus der Flying Junior geschubst und von einheimischen Bauern in ein Lazarett gebrachte wurde. Sein Retter war Richard Travers. Er landete in Solln, nur wenige hundert Meter von Greene entfernt, und überlebte. Allerdings hätten ihn die Verhöre und die Internierung im KZ traumatisiert, berichtete Meinl. Travers wurde Alkoholiker, er desertierte nach dem Tod seines einzigen Kindes von der Air Force, wurde vom FBI gesucht und starb unter falschem Namen.

Dass Travers am Tag seines Absprungs nur knapp mit dem Leben davongekommen war, berichtete der Zeitzeuge Walter Grein anschließend. Der Sollner, damals Medizinstudent, war nach dem Luftangriff mit dem Rad unterwegs. Er beobachtete, wie der US-Flieger von zwei Männern mit Pistolen abgeführt wurde, und verfolgte sie. Die Männer aber flohen, als zwei "große Kerle" hinter den Villen bei der evangelischen Kirche in Solln hervorstürmten und anfingen, auf den Soldaten einzutreten, erzählte Grein: "Das Bild hat sich bei mir tief eingebrannt, wie er am Boden liegt, die Hände zum Himmel gestreckt." Er habe sein Rad weggeworfen und sei "den deutschen Schlägern an die Gurgel" gegangen, die ihn "regelrecht verprügelt" hätten. Dann aber kamen die anderen Männer mit der Polizei zurück.

Forschungen gehen davon aus, dass es in den letzten Kriegsjahren in Deutschland und Österreich etwa 1000 so genannte Fliegermorde gegeben habe: Kriegsverbrechen an Soldaten der alliierten Luftwaffe, von denen nur ein Viertel aufgeklärt wurde. Vom Frühjahr 1944 an, sagte Sven Keller vom Institut für Zeitgeschichte, habe die NSDAP die Lynchjustiz gezielt eingefordert und den Mördern Straffreiheit gewährt. Meinl berief sich auf den in Pullach wirkenden Reichsleiter Martin Bormann, der in seinem Tagebuch vom "großen Pilotenjagen" spricht. Das Nazi-Regime habe "ganz gezielt zu Kriegsverbrechen aufgefordert", sagte Keller. Allerdings seien nur zehn bis 15 Prozent der Fliegermorde von der Zivilbevölkerung verübt worden, die meisten von NSDAP, SS und Volkssturm.

Der Abend fügte der Ortshistorie einen Namen hinzu und eine tragische Geschichte, die die sinnlose Grausamkeit des Krieges verdeutlicht. Zu ihr wird fortan auch ihr trauriger Epilog gehören: Jim Greene, der Sohn des ermordeten US-Soldaten, lernte seinen Vater nie kennen und wollte an der Veranstaltung am Freitagabend teilnehmen. Doch er starb auf dem Weg nach Pullach in Houston an einem Herzinfarkt.

© SZ vom 16.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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