Psychologie:Training für die Freiheit

In der Mutter-Kind-Abteilung der Justizvollzugsanstalt Stadelheim lernen junge Gefangene den Umgang mit ihren Babys. Das Safe-Projekt hilft ihnen mit wissenschaftlicher Begleitung, damit sie sich hinter Gittern für die Zeit nach der Haft fit machen

Von Hubert Grundner

Ohne den Kleinen würde ich das hier nicht aushalten, ich würde durchdrehen", sagt Nora. Auf dem Arm trägt sie ihren Sohn, den sechzehn Monate alten Tim. Zum Durchdrehen besteht aber glücklicherweise kein Grund: Beide schauen sogar recht zufrieden in die Welt, auch wenn es sich um eine sehr kleine, sehr begrenzte Welt handelt. Denn Nora ist Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stadelheim - und Tim ist in gewisser Weise ihr Mithäftling (die Namen der Gefangenen und ihrer Kinder sind geändert, d. Red.). Vor allem aber sind die beiden momentan sehr mit sich im Reinen - hier die stolze Mama, dort der kleine Bub, der vor Vergnügen quietscht, wenn ihm etwas besonders interessant erscheint.

Gerade sind das die Nase und der Bart von Andreas Alter, die Tim mit seinen Händchen erkundet. Bereitwillig spielt der Diplom-Psychologe das Spielchen mit bei seinem Besuch in der Mutter-Kind-Abteilung der JVA. Jenseits der Gefängnismauern wäre eine solche Szene nichts Besonderes, hier aber ist sie es sehr wohl. Dazu tragen zwei Umstände bei: Außer in München gibt es Mutter-Kind-Abteilungen bayernweit nur noch im Frauengefängnis in Aichach. Und überdies findet in Stadelheim das Safe-Projekt statt, an dem augenblicklich außer Nora und Tim vier weitere Mütter mit Kind teilnehmen.

"Safe" steht für "Sichere Ausbildung für Eltern" und ist, wie Andreas Alter erläutert, ein international renommiertes Projekt zur Förderung einer intensiven Beziehung zwischen Säuglingen beziehungsweise Kleinkindern und deren primären Bezugspersonen, in der Regel also den Eltern. Man könnte es auch als Aufmerksamkeits- und Feinfühligkeitstraining für Erwachsene im Umgang mit ihren Kleinkindern bezeichnen. "Entwickler" des Safe-Programms ist der Privatdozent Karl-Heinz Brisch, Oberarzt und Leiter der Abteilung für pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie des Haunerschen Kinderspitals.

Solche Kurse für werdende Eltern werden schon seit ungefähr sieben Jahren in und rund um München angeboten. Darauf ist wiederum die Diplom-Sozialpädagogin und Leiterin der Mutter-Kind-Abteilung, Andrea Senoner, aufmerksam geworden. Und von ihr stammte auch die Idee, ein Safe-Projekt auch in Stadelheim anzubieten. Weshalb sie sich zunächst an den Verein Wendezeit wandte, der die Beratung, Betreuung und Therapie für Straffällige unterstützt. Mitarbeiter der JVA haben den Verein 1994 gegründet. Auf der fachlichen Ebene rannte Senoner mit ihrem Vorstoß offene Türen ein: Alle Beteiligten, die sich beruflich mit der Entwicklung von Kleinkindern beschäftigt hatten, waren laut Andreas Alter von dem frühpräventiven Ansatz begeistert. Es war aber auch klar, dass dieses Projekt den finanziellen Rahmen des Vereins Wendezeit ganz sicher übersteigen würde. Deshalb habe man Kontakt mit Karl-Heinz Brisch aufgenommen, um sich zunächst über Art und Umfang der Leistungen sowie deren Kosten zu informieren. Alter, der als Kassier im Verein fungiert, erinnert sich, dass dieses erste Treffen 2013 sehr ermutigend verlief. Denn auch Brisch zeigte seinerseits großes Interesse an der erstmaligen Anwendung von Safe in einer JVA und war bereit, mit seinem Team die wissenschaftliche Begleitung zu übernehmen. Somit war noch die durchaus komplizierte Frage der Finanzierung zu klären, aber auch dafür fand sich eine Lösung. Im Juni 2015 konnte das Safe-Projekt schließlich beginnen.

Als Projektleiterin und gewissermaßen Brischs "verlängerter Arm" in der JVA fungiert Brigitte Forstner. "Ich bin vor acht Jahren Safe-Mentorin geworden", erzählt die Familientherapeutin und freiberufliche Forschungsmitarbeiterin der Haunerschen Kinderklinik. Der zentrale Begriff, um den es im Kurs geht, lautet für sie Feinfühligkeit. Damit Kinder sich gut entwickeln, müssen die Mütter deren Bedürfnisse erkennen können. Das heißt, die Mütter müssen zunächst einmal lernen, das eigene Verhalten zu reflektieren und über die eigene Kindheitsgeschichte nachzudenken. Auf die Weise will man, verkürzt dargestellt, verhindern, dass die Frauen negative Erlebnisse und Missbrauchserfahrungen, die sie selbst oft genug erlitten haben, an die Kinder weitergeben. "Alles dreht sich um die Bindungsentwicklung des Kindes", erklärt Brigitte Forstner diese Idee: Kinder mit einem sicheren Bindungsmuster reagierten insbesondere auf Belastungssituationen mit einer höheren psychischen Widerstandskraft. Außerdem zeigten sie ein breiteres Spektrum an Bewältigungsstrategien, seien aufmerksamer und könnten sich besser konzentrieren. Diese Effekte wirken sich am Ende positiv auf die soziale Kompetenz der Kinder und deren Empathiefähigkeit aus.

Jenseits dieser theoretischen Überlegungen ist das Safe-Programm sehr konkret und praxisbezogen. So kommt einmal wöchentlich die Müttergruppe für eineinhalb Stunden zusammen. Geleitet wird sie von der Kinderkrankenschwester und Psychologin Laura Mainardi sowie der Sozialpädagogin Margot Haid. Ergänzend findet alle vier Wochen ein Einzeltermin - das eigentliche Feinfühligkeitstraining - mit jeder Mutter statt.

Dabei werden die Frauen, wie Brigitte Forstner erklärt, zunächst mit einer Videokamera beim Wickeln oder Füttern gefilmt. Anschließend suchen die Expertinnen "gute", also stimmige Bilder für ein positives Rollenverhalten heraus, loben und bestärken die Frauen. Natürlich würden auch Fehler angesprochen, so Forstner weiter. Doch geschehe dies nicht in Form harscher Kritik. Stattdessen sage sie als Mentorin vielleicht: "Ich hab' da auch noch eine Idee: Wie wäre es, wenn Sie Ihr Kind etwas näher bei sich halten würden?" Rollenspiele, in denen negativ aufgeladene Situationen nachgeahmt werden, tragen zusätzlich dazu bei, eigenes und fremdes Verhalten besser zu verstehen.

Wie sie das Video-Feedback-Training erlebt, hat Johanna, die Mutter des zwei Jahre alten Paul, festgehalten: "Es ist sehr interessant, wie intensiv einen das Kind beim Reden anschaut. Das fällt mir im Alltag gar nicht so auf, wenn ich mit ihm spreche. Davon bin ich immer ganz überwältigt. Es gefällt ihm, er freut sich, wenn ich mich mit ihm intensiv beschäftige, zum Beispiel beim Wickeln oder Spielen. Ich bin sehr erleichtert, dass ich mit ihm alles richtig mache - da hatte ich so meine Zweifel." Doch bei allem Bemühen um eine stabile Mutter-Kind-Bindung sollen sich die Frauen nicht komplett auf ihre Kinder fixieren. Dazu gehört, dass zwei von der JVA angestellte Erzieherinnen täglich mit den Kleinen außerhalb des Gefängnisses unterwegs sind, während die Mütter drinnen in den JVA-Betrieben arbeiten.

Die Teilnahme am Safe-Projekt ergibt sich im Übrigen automatisch: Die Haftstrafe der Mutter muss vor dem vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes verbüßt sein. Denn, so lautet eine Grundregel, länger sollen die Kinder nicht in dieser Umgebung aufwachsen. Nora jedenfalls fühlt sich dank des Programms gut vorbereitet auf den Tag, an dem sie mit Tim wieder in die Freiheit zurückkehren darf. Beim gemeinsamen Mittagessen der Mütter im Gruppenraum, der mit Ausnahme der Gitter vor den Fenstern wie jede andere Kinderkrippe aussieht, sagt sie noch: "Ich würde es schade finden, wenn das Projekt nicht weitergehen würde."

Einige Stunden später wird Nora in ihre Zelle zurückkehren, um 18 Uhr schließt sich die Tür hinter ihr - und ihrem kleinen Mitgefangenen Tim. Denn bei aller Begeisterung über das Förderprogramm gilt doch, was Andreas Alter sagt: "Das ist nach wie vor ein Gefängnis."

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