Psychisch kranke Obdachlose:Ein Heim ohne Bedingungen

  • Vor 25 Jahren eröffnete das Wohnheim für psychisch kranke Obdachlose in der Kyreinstraße.
  • Heute hat die Einrichtung 50 Plätze, längst gibt es eine Warteliste.
  • Deshalb sucht der Verein auch nach neuen Räumen.

Von Sven Loerzer

Es war eine schlimme Nacht. Offenbar litt einer der Bewohner der Kyreinstraße 5 unter einem Delirium und entwickelte Wahnvorstellungen. In höchster Erregung schilderte er den Mitarbeitern in dem vor 25 Jahren eröffneten Haus des Katholischen Männerfürsorgevereins (KMFV), dass er umgebracht werden sollte. Die Angreifer seien bereits über Leitern in sein Zimmer in dem Wohnheim eingestiegen, sie kämen aber auch aus dem Schrank.

Die Mitarbeiter riefen den Ärztlichen Notdienst. "Zwei Mal bekam der Mann Beruhigungsmittel verabreicht und schien dann ruhig zu schlafen", erinnert sich Hausleiter Manfred Baierlacher. Offenbar unbemerkt wachte der Bewohner gegen sechs Uhr wieder auf, knotete Bettlaken zusammen und versuchte sich über ein Fenster aus einem Zimmer im ersten Stock abzuseilen. "Die Laken hielten", erzählt Baierlacher, "aber der Mann verlor offensichtlich den Halt, stürzte ab und verstarb noch vor dem Eintreffen des Notarztes auf dem Gehsteig."

Die Strukturen haben sich verändert

Wenn Jubiläen anstehen, dann ist das meist Anlass dafür, nur über Erfolge zu sprechen. Dass Baierlacher trotzdem an diese Tragödie erinnert, hat einen besonderen Grund: "Es gab damals noch keinen psychiatrischen Krisendienst. In den ersten Jahren sind Dinge passiert, die heute nicht mehr denkbar wären, weil sich die Strukturen inzwischen geändert haben."

Veränderungen, die von Baierlacher und seinem Team immer wieder angestoßen wurden, weil sich zu Beginn der Neunzigerjahre die Psychiatrie mit psychisch kranken Suchtkranken noch schwertat und sie an die Suchthilfeeinrichtungen verwies.

Die wiederum vertraten die Auffassung, die Obdachlosen müssten zunächst psychiatrisch behandelt werden, bevor sie in die Suchthilfe kommen. Baierlacher kann dazu eine ganze Menge von Beispielen erzählen - aber all das ist Vergangenheit, die Zusammenarbeit mit der Isar-Amper-Klinik, dem Atriumhaus und dem Psychiatrischen Krisendienst funktioniert.

"Wir freuen uns, wenn er es versucht."

In der breiten Palette von Obdachloseneinrichtungen nennen Fachleute die Kyreinstraße ein "niederschwelliges Angebot", weil es keine Bedingungen stellt. "Wir erwarten nicht, dass sich jemand verändert. Wir freuen uns, wenn er es versucht." Die Sozialarbeiter im Haus geben dazu Unterstützung. Als der Katholische Männerfürsorgeverein das Haus 1990 eröffnete, war es der Versuch, alleinstehende wohnungslose Männer, die noch dazu psychische Probleme hatten und suchtkrank waren, erst mal von der Straße wegzubringen, um ein noch tieferes Abgleiten zu verhindern. Niedrigschwellig war damals auch noch gleichbedeutend mit niedrigem Personaleinsatz.

"Beim Start mit 72 Plätzen überwiegend in Doppelzimmern und 1,5 Sozialpädagogen inklusive Leitung wurde den Mitarbeitern sehr viel abverlangt", sagt KMFV-Geschäftsführer Ludwig Mittermeier. "Es war Pionierarbeit, bis an die Grenzen des Möglichen." Inzwischen ist die Bettenzahl auf 50 reduziert worden, um 18 Einzelzimmer für psychisch kranke Bewohner anbieten zu können.

Dort gibt es für jeweils sechs Bewohner einen Betreuer, im Wohnheimbereich mit 32 Plätzen kümmert sich jeweils ein Betreuer um 13 Bewohner. Längst gibt es eine Warteliste. Deshalb sucht der KMFV nach neuen Räumen. Baierlacher hofft auf 70 Plätze in Einzelzimmern mit Nasszellen. Auf keinen Fall aber soll dann die Kyreinstraße aufgegeben werden, betont Baierlacher.

Ein Film zeigt die Situationen der Bewohner

Viele der Bewohner dort leben in einer ganz eigenen Welt. Wie etwa jener Mann, der sein Zimmer über und über mit Worten beschriftet hat. Der Wortkünstler ist einer von jenen Männern, die sich an einem Kurzfilm beteiligt haben, den Studenten der Filmhochschule München nach langen Vorgesprächen zum Jubiläum gedreht haben. Till Cöster (Regie) und Franz Kastner (Kamera) ist nach langen Vorgesprächen ein ebenso eindrucksvolles wie einfühlsames Werk gelungen: Es lässt die Bewohner sprechen, ohne deren Lebenssituation zu kommentieren. Dabei wird deutlich, wie krank die Menschen sind. Aber die Kamera bewahrt dennoch die Würde der Menschen, so deutlich auch wird, wie sehr sie in ihrer Welt gefangen sind.

Der Film zeigt in ruhigen Bildern Menschen, die unter traumatischen Erlebnissen leiden. "Ich bin sehr früh getrennt worden von Mutter und Vater", erzählt ein Bewohner. Sein Vater wollte mit ihm und den Geschwistern von der Brücke springen. Wegen Alkohols und Drogen hat der Mann schon unzählige Entgiftungen und Therapien angefangen, "aber keine zu Ende geschafft". Nach mehr als vier Jahren in der Kyreinstraße scheint Ruhe in sein Leben eingekehrt zu sein.

Sein früheres Leben reflektiert ein gepflegt wirkender älterer Mann, der vor seinem liebevoll dekorierten Blumenfenster sitzt und sagt, "ich bin anscheinend nicht sehr belastbar". Bei ihm sei es abgelaufen wie in Filmen, "aus Liebesleid entstand Verzweiflung". Der Lebenskrise habe er versucht zu entfliehen, "indem ich anfing stärker zu trinken". Dann achtete er nicht mehr auf Kleidung und Äußerlichkeiten, Briefe blieben ungeöffnet, die Miete unbezahlt, die Räumungsklage und Hilfsangebote unbeantwortet. "Sich ja nicht den Problemen stellen", sagt der Mann sarkastisch, sei "eine wunderbare Lösungsmöglichkeit".

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