Prozess:Tritte gegen den Kopf

Staatsanwalt fordert knapp sieben Jahre Haft für Angeklagten

Von Susi Wimmer

Haluk M. (alle Namen geändert) ist ein durchtrainierter Mann mit breitem Kreuz. Er sitzt im Gerichtssaal und von hinten sieht man nur das Zucken seiner Schultern. Während seine Anwältin plädiert, weint er, er kann nicht mehr aufhören. Haluk M. ist 45 Jahre alt, und er war am 28. August um 6 Uhr früh zur falschen Zeit am falschen Ort. Denn er traf am S-Bahnhof Taufkirchen auf den 18-jährigen Marco G., der ihn betrunken und frustriert provozierte. Als Haluk M. zu Boden ging, trat der Jugendliche mit voller Wucht auf den Kopf des Mannes ein. Nach dem dritten Tritt wurde Haluk M. bewusstlos. Da zog Marco G. nochmal mit voller Wucht seinen Fuß durch. "Niederträchtiger und brutaler geht es nicht", sagte der Staatsanwalt bei den Plädoyers vor dem Landgericht München I, und forderte eine Haftstrafe von sechs Jahren und neun Monaten wegen versuchten Totschlags für den Angeklagten.

Marco G. und sein Bruder hatten die Nacht durchgemacht und warteten sicher nicht mehr nüchtern in Taufkirchen auf die S-Bahn. Marco G. war frustriert, die Freundin war auf eine andere Party gegangen und hatte ihr Handy ausgestellt. "Er wusste nicht, ob sie sich trennen will oder einen anderen hat", sagte sein Anwalt Olaf Groborz. Der Umgang mit Frustration scheint für ihn ein Problem zu sein, oder, wie der Staatsanwalt meinte, "er wird schnell aktiv aggressiv, das ist sein Wesen". Marco G. schnalzte mit der Zunge in Richtung des Älteren, beleidigte ihn und seine Mutter und Haluk M. sagte noch: "Junge, mach Dir Dein Leben nicht kaputt." Doch Marco G. hörte nicht auf.

Da sprang Haluk M. vom stadteinwärts führenden Bahnsteig ins Gleisbett, ging über die Gleise zu Marco G., und schlug ihn zweimal mit der Faust ins Gesicht. "Gewalt erzeugt Gewalt", sagte Anwalt Groborz in seinem Plädoyer. Haluk M. habe den körperlichen Angriff begonnen. Sein Mandant habe sich mit den Tritten verteidigen wollen. Den vierten Tritt, als das Opfer schon bewusstlos am Bahnsteig lag, sah Groborz als gefährliche Körperverletzung und forderte eine Jugendhaftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten.

"Ohne den Videobeweis hätte die Tat in der Tragweite und Brutalität nicht so gewürdigt werden können", meinte der Staatsanwalt. Haluk M. kann das Video bis heute nicht anschauen. Er befand sich jahrelang wegen Depressionen in therapeutischer Behandlung und kann das Geschehen nicht vergessen. Laut seiner Anwältin will er sogar umziehen, um nicht jeden Tag am Tatort vorbeizukommen. Richter Stephan Kirchinger verkündet das Urteil am kommenden Montag.

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