Prozess in München:Gutachter erklärt Schützen von Unterföhring für schuldunfähig

Mehrere Verletzte bei Schießerei

Am S-Bahnhof Unterföhring hatte der Angeklagte einen Beamten in Richtung Zuggleis geschubst und ihm im Gerangel die Waffe abgenommen.

(Foto: dpa)
  • Im Prozess um die Schießerei im S-Bahnhof Unterföhring erklärt ein Rechtsmediziner, welche Verletzungen die Polizistin davongetragen hat.
  • Der Angeklagte Alexander B. hatte ihrem Kollegen im Juni 2017 die Dienstwaffe abgenommen und der 27-Jährigen damit in den Kopf geschossen.
  • Experten bescheinigen Alexander B. vor Gericht eine schwere psychische Störung.
  • Am Freitag werden Plädoyers und Urteil erwartet.

Von Susi Wimmer

Die Eltern der schwer verletzten Polizeibeamtin Jessica L. werden zum Prozess an keinem einzigen Tag erscheinen, sagt die Nebenklageanwältin Annette von Stetten am Rande der Verhandlung. So blieben ihnen am Mittwoch auch die Ausführungen des Rechtsmediziners Oliver Peschel erspart, der wissenschaftlich nüchtern die schweren Hirnverletzungen der 27-Jährigen erklärte, die sich im Wachkoma befindet und die nach seiner Einschätzung "ein nicht-kommunikationsfähiger Vollpflegefall" bleiben werde.

Jessica L. hatte am 13. Juni 2017 im S-Bahnhof Unterföhring ihren Kollegen vor Alexander B. schützen wollen, der sich die Waffe des Polizisten gegriffen hatte. Während B. sein Magazin leer ballerte und Jessica L. in den Kopf schoss, gab sie zuvor nur zwei Schüsse ab. "Sie ist so ausgebildet", mutmaßte Peschel. Denn hinter B. befand sich eine stehende und voll besetzte S-Bahn, wohl deshalb habe die Polizistin nach unten gezielt, und damit ihr Leben riskiert.

Relativ unscheinbar und blass verfolgt Alexander B. die Ausführungen des Rechtsmediziners. Gefühle sind von seinem Gesicht nicht abzulesen, was vielleicht auch daran liegen mag, dass er neben den Antipsychotika während des Prozesses auch mit Beruhigungsmitteln behandelt wird. Eine Oberärztin des Isar-Amper-Klinikums, wo Alexander B. zurzeit untergebracht ist, bescheinigt ihm eine paranoide Schizophrenie.

"Gleich am Abend, als er zu uns kam, wollte er sich mit der Kordel seiner Jogginghose erhängen", erzählt sie. Im Nachhinein habe er ihr erklärt, er dachte zu dem Zeitpunkt, die Aufnahme in Haar sei "eine Inszenierung, die seine Hinrichtung einleiten solle". B. habe keinen Satz sprechen können, nur einzelne Worte, sein Blick sei starr gewesen, seine Fäuste geballt.

Der 38-jährige B. ist gebürtiger Starnberger, wanderte mit seinen Eltern in die USA aus und hatte dort schon psychotische Schübe. Zweimal wollte er sich das Leben nehmen, einmal war er in der Folge für eine Woche in der Psychiatrie. "Dort ging man von einer bipolaren Störung aus, die unter Umständen vorübergeht", sagte die Oberärztin. Man habe ihm zur Stimmungsstabilisierung ein Medikament verschrieben, dass er aber selbst nach einem Monat abgesetzt habe.

Die paranoiden Gedanken, so die Ärztin, hatte er verschwiegen. Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen wurde Alexander B. in der Isar-Amper-Klinik mit einer hohen Dosis an Neuroleptika und Angstlösern behandelt. Zwei Monate lang befand er sich in einem Isolierzimmer mit Sicherheitsdienst und Videoüberwachung. Niemand durfte sich ihm alleine nähern. Als man versucht habe, die Medikamente, "die man eigentlich nur drei Wochen gibt", nach zwei Monaten zu reduzieren, seien sofort Störungen aufgetreten.

Als Alexander B. Anfang Juni 2017 zu einer Europareise aufbrach, holten ihn die "schlechten Gedanken", wie er sagt, wieder ein. Einen Flug nach Prag cancelte er, stattdessen flog er von Athen nach München, um bei Verwandten unterzukommen. In der S-Bahn ging er unvermittelt auf einen Fahrgast los, verprügelte ihn, in Unterföhring wurde er der Polizei übergeben. Während der Zeugenbefragung schubste er einen Beamten in Richtung Gleise und nahm ihm im Gerangel die Waffe ab.

Getrieben von einer Wahnvorstellung

Was in Alexander B. während des akuten paranoiden Schubs vorging, beschreibt der psychiatrische Gutachter Karl-Heinz Crumach mit den Symbolen, die bei einem Geldspielautomaten in rasender Geschwindigkeit durchrattern und irgendwo stehen bleiben. Ebenso zufällig sei die Reaktionsweise des Angeklagten auf normale Situationen. Er werde von rasenden Gedanken verfolgt, höre Stimmen. Als B. am Flughafen in München ankam, habe er zwar die Schilder für die Gepäckabholung gesehen, "aber er konnte die Information nicht mehr verarbeiten", sagte Crumbach.

Deshalb blieb sein Rucksack auf dem Gepäckband - und er hockte schlaflos bis zum nächsten Morgen am Flughafen. Getrieben von der Wahnvorstellung, ein Mann in der S-Bahn habe eine Waffe und wolle ihn töten, ließ er einen Zug losfahren und stieg in den nächsten. Crumbach glaubt, dass B. erst am ersten Verhandlungstag, als das Video der Tat abgespielt wurde, realisiert habe, was er getan habe. Ob zu seinem Krankheitsbild auch die fehlende Entschuldigung im Prozess gehöre, will Anwältin von Stetten wissen. "Ja", sagt der Gutachter.

Er bescheinigt Alexander B. eine Schuldunfähigkeit aufgrund krankhafter seelischer Störung und eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit. Daraufhin gibt Richter Stoll den rechtlichen Hinweis, dass aufgrund fehlenden Bewusstseins auch eine Verurteilung wegen Totschlags, und nicht wegen Mordes in Betracht komme. Staatsanwalt Andreas Bayer weist auf das Mordmerkmal "niedere Beweggründe" hin. Am Freitag werden Plädoyers und Urteil erwartet.

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