Schießerei am Unterföhringer S-Bahnhof:"Ich musste Jessi beatmen"

  • Am S-Bahnhof Unterföhring schoss am 13. Juni 2017 ein an Schizophrenie Erkrankter auf zwei Polizisten und verletzte eine Beamtin lebensgefährlich.
  • Der Prozess gegen Alexander P. läuft seit Dienstag im Gerichtssaal der Justizvollzugsanstalt Stadelheim.
  • Nun haben Zeugen geschildert, wie sie die Situation erlebten.

Von Susi Wimmer

"Trauma, das. Herkunft griechisch traũma = Wunde": So definiert der Duden ein Ereignis, bei dem die menschliche Seele verletzt wurde. Vor dem Landgericht München I erscheinen am Freitagvormittag etliche Zeugen, die weinen. Einer ist bis heute nicht in der Lage, S-Bahn zu fahren, ein anderer erzählt, er habe in der Folge Job und Ehefrau verloren, und wieder ein anderer sagt lapidar, es sei alles "okay". Es sind ganz unterschiedliche Erfahrungsberichte darüber, wie sich die Ereignisse von Unterföhring auf die Menschen ausgewirkt haben. Und zwar auf die Menschen, die in der S-Bahn saßen, als mehrere Schüsse über den Bahnsteig peitschten und eine Polizistin lebensgefährlich verletzt wurde.

Es ist nicht nur sehr individuell, wie die einzelnen Menschen mit einer belastenden Situation im Nachhinein umgehen, es ist auch sehr individuell, wie sie sich in dieser Ausnahmesituation verhalten. Die S 8 zum Flughafen fuhr an jenem 13. Juni 2017 gerade in den Bahnhof Unterföhring ein, als Alexander B., der wegen einer Körperverletzung befragt wurde, auf dem Bahnsteig einem Polizisten die Waffe entriss, Schüsse auf ihn abfeuerte und anschließend der Polizistin Jessica L. in den Kopf schoss.

"Ich muss in die Offensive gehen, sonst bin ich völlig ausgeliefert", das war der erste Gedanke von Björn S. Der Journalist stand an der S-Bahntür, als der Zug einfuhr, Schüsse fielen und ein Fahrgast rief: "Da hat jemand eine Waffe!" Björn S. schrie durch den Zug "alle hinlegen", dann trat er hinaus auf den Bahnsteig.

Nach links war der Bahnhof leer, rechts sah er einen Mann, der mit einem Beinschuss auf dem Boden lag. Immer wieder wird die Stimme des Journalisten brüchig, während er erzählt, "es war dramatisch", sagt er. Die lauten, verzweifelten "Jessi, Jessi"-Schreie ihres Kollegen Kilian I., das viele Blut, dann die Sanitäter, die eine Infusion legten. Er habe mit einem Handtuch aus seinem Rucksack die Notfallversorgung von Jessica L. vor den Augen der anderen abgeschirmt.

Und dann der Sanitäter, der ihn um Hilfe bat: "Ich musste Jessi beatmen", sagt der 42-Jährige. Er drückte den Beatmungsbeutel, bis der Notarzt kam. Bis heute, sagt der Journalist, könne er den Bahnhof in Unterföhring nicht betreten. Im Zuge einer Konfrontationstherapie habe er es einmal versucht, sei aber auf den Treppen fast zusammengebrochen. Mit der S-Bahn fahren? "Keine Chance", sagt der Zeuge. Sein Arbeitgeber habe ihm einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Er hoffe, dass das mithilfe der Trauma- und Verhaltenstherapie irgendwann einmal wieder gehen werde.

Herzrasen, wenn es irgendwo laut knallt, Schlafstörungen, das Haus nicht verlassen können: Etliche Zeugen aus dem Zug wurden regelrecht aus der Bahn geworfen. Im Zug auf dem Boden liegend, dachten sie an Terroranschläge, fühlten sich hilflos ausgeliefert und zitterten "gefühlt zehn bis 15 Minuten" in Todesangst. "Wenn man ein psychisches Problem hat, heißt es ja gleich, dass man irre ist", sagt eine Zeugin weinend. Sie saß in dem Waggon, der von zwei Kugeln getroffen wurde. Bis heute hat Brigitte P. Angstzustände in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Alexander B. folgt den Ausführungen der Zeugen emotionslos. Der an paranoider Schizophrenie Erkrankte hatte mindestens zweimal versucht, sich umzubringen, war aber wohl nicht mit Medikamenten eingestellt worden. Einen Tag vor den Schüssen soll er von der Hochzeit seiner Ex-Freundin erfahren haben, mit der er eine heute fünfjährige Tochter hat. Er selbst sagte vor Gericht, er habe sich von den Polizisten bedroht gefühlt. Am Montag wird weiter verhandelt.

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