Projekt "Munich Central":Probebohrungen im Biotop

Der reinste urbane Wildwuchs: Im Münchner Bahnhofsviertel treffen Uniklinikum, türkische Händler und Sexkinos aufeinander. Dem eigentlichen Zentrum Münchens widmen die Kammerspiele das Stadtprojekt "Munich Central".

Alex Rühle

Zum vierten Mal gehen die Münchner Kammerspiele raus in die Stadt. Sie suchen sich dafür ja meist zugige Orte aus: Das Hasenbergl. Eine Hauptschule. Diesmal haben sie Quartier bezogen in der schillerndsten, großstädtischsten Ecke Münchens, dem Straßengeviert zwischen Hauptbahnhof und Pettenkoferstraße, dem Areal, durch das immer schon das Fremde in die Stadt kam: "Sie gingen vom Bahnhof aus durch die Straßen, Odysseus voran, gingen an den Neubauten der Hotels Dachgarten über den Ruinen Cocktailstunde vorbei, wurden von Kalkstaub berieselt, beworfen, gingen durch die auf Trümmerfeldern errichteten Ladenstraßen, zur Linken und zur Rechten ebenerdige Baracken, blitzend mit Chromleisten, Neonleuchten und Spiegelscheiben."

Projekt "Munich Central": Die arabisch-türkische Szene trifft sich im südlichen Bahnhofsviertel in der Goethestraße. Im Hintergrund befindet sich das Hotel "Goethe".

Die arabisch-türkische Szene trifft sich im südlichen Bahnhofsviertel in der Goethestraße. Im Hintergrund befindet sich das Hotel "Goethe".

(Foto: sz.sonstige)

So öffnet sich das zerstörte, aber in diesen Straßen schon wieder pulsierende München dem Leser in Wolfgang Koeppens Nachkriegsroman "Tauben im Gras".

Von all den bei Koeppen beschriebenen eingeschossigen Baracken, in denen sich Ende der vierziger Jahre Jazzclubs, Animierbars, Einzelhändler ansiedelten, hängen Schwarzweißfotos im Munich Central, "unserem Forschungslabor", wie der Autor und Regisseur Karnik Gregorian das provisorische Basislager der Kammerspiele nennt, das sich in einem ehemaligen türkischen Supermarkt in der Goethestraße 30 eingenistet hat: Eine Bar, eine offene Bühne, Stühle, und die ganze Rückwand ein wild wuchernder Stadtplan: Straßen, Fotos aus allen Jahrzehnten, dazwischen Souvenirs und Zettel, auf denen Bewohner der umliegenden Häuser ihre Geschichte aufgeschrieben haben: "Ich komme aus Afghanistan", steht da in ungelenker Kulischrift, "und bin seit zehn Jahren Landwehrstraßenprofi, weil ich spreche sieben Sprachen: Afghanisch, Hindi, Deutsch, Russisch, Serbisch, Türkisch."

Gregorian wird in den kommenden Wochen zusammen mit Anne-Isabelle Zils zu verschiedenen Tageszeiten in die umliegenden Straßen ausschwärmen. 24 h nennt sich ihr Projekt, Stadterkundungen als Probebohrungen in all die Biotope, die hier durcheinander wuchern: Universitätsklinikum und Hauptbahnhof, Moscheen und 60 Prozent aller Münchner Hotels, türkische Händler und Sexkinos, in der Landwehrstraße hat Friedrich Gleich seinen weltweit einmaligen Laden für Plattenspielernadeln, ein urbanistischer Wildwuchs, wie es ihn in München nirgends sonst gibt, ja wenn man den Worten des Neurowissenschaftlers Ernst Pöppel, der seit 30 Jahren am Institut für medizinische Psychologie arbeitet, glauben darf, dann ist die Goethestraße "durch ihren extremen Querschnitt die interessanteste Straße Deutschlands, die ist so wild, die kriegt kein Gentrifizierer in den Griff".

Das wird sich in den kommenden Jahren weisen: Der Hauptbahnhof soll umgebaut werden, das wird die Einzelhändler in den umliegenden Straßen durcheinanderbringen. Und sollte tatsächlich die gesamte Medizin in Großhadern zusammengezogen werden, würde das riesige Areal in der Pettenkofer- und Nußbaumstraße frei werden. "Dann wird das Viertel regelrecht in die Zange genommen", sagt der Stadtforscher Joachim Vossen vom Institut für Stadt- und Regionalmanagement. "Die kleinen Nischen, all diese winzigen Betriebe, das wär's dann für die." Noch kosten Büroräume hier um die 12 Euro, "ein richtiges Mietloch mitten in der Stadt", sagt Vossen, "das wird bestimmt nicht so bleiben". Insofern haben die Kammerspiele den richtigen Zeitpunkt für ihr Versuchslabor gewählt.

An diesem Samstag beginnt das Festival mit dem Dokumentarstück Gleis 11. Die Zuschauer werden um acht Uhr abends an ebendiesem Gleis abgeholt, so wie seinerzeit die etwa 1000 Gastarbeiter, die Tag für Tag aus Südeuropa kamen und alle erstmal in den gigantischen Luftschutzbunker geführt wurden, den es bis heute unter dem Bahnhof gibt: Kalte, kahle Räume mit niedrigen Decken aus Beton.

Der Schneider Ethem Kocer kam hier 1965 als junger Mann an. Drei Tage vor der Premiere probt er zusammen mit dem Dolmetscher Remzi Özbay, der auch damals schon für die ankommenden Arbeiter dolmetschte, seinen Text, in dem er erzählt, was ihn aus der Heimat vertrieb: Missernten, kein Geld, er war bankrott.

Die Regisseurin Christine Umpfenbach hat monatelang nach Menschen gesucht, die seinerzeit in diesem Bunker anlandeten und von dort aus verschickt wurden in die Fabriken des Wirtschaftswunders: Eine Ziffer auf ihrem Arbeitsvertrag entschied darüber, ob sie weiter mussten nach Gelsenkirchen, Braunschweig, Hamburg oder hier in München blieben. Gleis 11 ist ein großartiges Stück Oral History: Die zerrissenen Familien, der Hunger in Griechenland, die Hoffnungen, das Heimweh, Einzelschicksale, die von den altgewordenen ehemaligen Gastarbeitern selbst vorgetragen werden und die sich hier unten, tief unter dem Hauptbahnhof, zu einem anderen bundesrepublikanischen Bild zusammensetzen.

Vom Gemüsehändler zum Hotelbesitzer

Mahir Zeytinoglu kam auch an Gleis 11 an, 1973. "Wir haben eine kleine Tüte gekriegt, mit Apfel, Birne und Banane. Dann hab ich da unten im Bunker zwei Stunden gewartet. Und dann hatte ich meinen ersten Job, bei der Stadtgärtnerei." Zeytinoglu sitzt im Foyer des Hotels Goethe, seines eigenen Hotels, das einen türkischen Halbmond in Goethes "O" trägt. Hinter ihm eine Fotowand, Zeytinoglu, der dem Ruhm und der Macht die Hand schüttelt: Wiesheu, Stoiber, Ude, Beckstein, Gauweiler, "sehr guter Mann, der hat hier den Schmutz weggemacht".

Zeytinoglu ist heute einer der Paten des Viertels, er hat sich vom Gemüsehändler zum Hotelbesitzer hochgearbeitet, in Hürriyet stand mal, er sei der Bürgermeister der Goethestraße. Im Eingangsbereich hängen Ölbilder von Goethe, Atatürk und Ludwig II., Zeytinoglu will gelebtes Multikultitum präsentieren, in seinem Reden zeigt sich dann freilich, dass es nicht weit her ist damit.

Man muss in seinem Originalsingsang hören, wie das von freundlich mahnender UNO-Generalsekretärsrhetorik umkippt in eisiges Ressentiment: "Wir sind geboren, eine Zeit später sterben wir, also Frieden ist wichtig, wie im west-östlichen Divan. Goethestraße sauber halten. Deshalb keine Bulgaren und Rumänen, die sind nix, ich rufe Polizei, muss man wegmachen, schmutzig alle, aber Polizei sagt, kann man nicht wegschmeißen in Heimat, ist EU Bulgarien. Leider."

Alexander und Nikolay sind zwei der Bulgaren, von denen Zeytinoglu sprach. Die Tatsache, dass sie an diesem Nachmittag im Munich Central sitzen, ist ein schöner Beleg für den Wildwuchs dieses Viertels: Die Kammerspiele hatten ihr Basislager noch gar nicht fertig eingerichtet, da setzte sich die bulgarische Community hier fest: An der Ecke Goethe- Landwehrstraße gibt es einen Arbeiterstrich, jeden Morgen um halb sechs stehen dort an die 150 Bulgaren und hoffen, dass irgendein Bauunternehmer kommt und einige von ihnen brauchen kann. Diese Bulgaren sind die modernen Arbeitsnomaden, keiner von ihnen wurde mit Apfel, Banane und Birne am Hauptbahnhof empfangen, keiner hat auf sie gewartet, sie ergattern, wenn sie Glück haben, einen bis drei Jobs im Monat, das meiste auf Ausbeutungsbasis, schwarz. Alexander hat im Februar seinen rechten Zeigefinger verloren. Der Arbeitgeber hat ihm 150 Euro Schweigegeld gezahlt, ein paar Tage später stand Alexander wieder an der Goethestraße. Jetzt ist er froh um das Café: Schließlich gibt es hier in der Gegend keine Parks, ja nicht mal Bänke.

Man spürt, wenn man sich ein paar Tage durch das Viertel bewegt, bis heute das Provisorische, das der Gegend von Anbeginn anhaftete: Bis zur Pettenkoferstraße wurde die Bebauung im 19. Jahrhundert generalstabsmäßig geplant, die baumbestandenen Straßen, die wilhelminischen Bauten, die Plätze. Zwischen Pettenkoferstraße und Bahnhof aber gab es eine "planerische Lücke", wie der Architekt Hajo Bahner das nennt, Wiese und waste land, das Münchner Bauern während des Booms der Gründerzeit wild verkauft haben. "Die damaligen Spekulanten pressten so viel Häusermasse wie nur irgend möglich auf den Baugrund, bis heute findet man in München nirgends so tiefe Hinterhöfe wie hier." Bahner wird zum Stadtpoeten, wenn er im Café GAP, dem letzten erhaltenen Nachkrigesschnellbau, von seinem Viertel spricht. Wobei es schon fast nach Konstantin-Wecker-Harmonik klingt, wenn er vom Künstlerviertelambiente und den "syntopischen Qualitäten" des Areals schwärmt.

Vera braucht man mit multikulturellem Ambiente und urbanen Syntopien nicht zu kommen. "Süßer, wir reden vom Hauptbahnhof, okay? Weißt du, wie viele total verstrahlte Typen jeden Tag hier vorbeilaufen?" Es ist zwei Uhr nachmittags, in der Dolly Bar sind außer Vera nur zwei Frauen, eine Schwarze und Sofia, die mit schwerem Augenaufschlag am Tresen sitzt und fragt, ob man nicht wenigstens einen Piccolo ausgeben will. Vera sagt, es sei ja alles nicht mehr wie früher, trotz Rotlicht keine Erotik. "Die Gegend wäre perfekt für Prostitution, aber wir dürfen ja nicht." Außerdem sei das Geschäft eh kaputt. Durchs Internet. Durch die osteuropäischen Frauen, die die Preise verderben. "Und die Wirtschaftskrise hat uns den Rest gegeben."

Sofia sagt, sie erhole sich in dieser Bar, sie hat 20 Jahre als Domina gearbeitet, dann hat sich ihr Mann umgebracht, "jetzt orientiere ich mich hier neu, ist ja völlig harmlos". Dann sagt sie, die SM-Szene sei vor die Hunde gegangen, es gebe keine guten Dominas und kaum noch echte Masochisten. Sie selbst habe noch eine langjährige Ausbildung durchlaufen, "Bondage, so was musst Du hunderte Stunden geübt haben, bevor du das am Kunden machst, heute fangen die Mädchen einfach an und binden die irgendwie fest." Auch das Material, das nebenan verkauft werde, sei lausiges Zeug, "eine gute Peitsche kostet 300 Euro, drüben gibt's welche für 60, die sind nach dem ersten Züchtigen hinüber."

Interessant, was man dank der Kammerspiele alles lernt.

Das gesamte Programm des Stadtprojekts der Münchner Kammerspiele ist unter www.munich-central.de zu finden.

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