Premiere von "Wunschkonzert" in München:Leben als schwarzes Loch

Wenn der Sinn des Lebens nicht einmal eine Edeka-Tüte füllt: Bei der Premiere von Franz Xaver Kroetz' "Wunschkonzert" in den Münchner Kammerspielen werden die letzten Minuten vor dem Suizid einer Frau gezeigt - ohne Worte.

Tobias Dorfer

Journalisten sind in ihrer täglichen Arbeit immer wieder mit Selbstmorden konfrontiert. Und in den allermeisten Fällen, das ist allgemeiner Usus, wird darüber nicht berichtet. Zu groß die Gefahr, Nachahmer zu inspirieren. Der Suizid: Eines der letzten großen Tabus in einer tabulosen Welt.

Wunschkonzert, Münchner Kammerspiele

Annette Paulmann als Fräulein Rasch in Franz Xaver Kroetz' "Wunschkonzert".

(Foto: Conny Mirbach)

Der Regisseur Franz Xaver Kroetz hat sich dieses Themas in einer Zeit angenommen, die an Tabus ungleich reicher war. Anfang der 1970er Jahre schrieb er sein Einpersonenstück "Wunschkonzert", das den Tabubruch jedoch elegant umschifft, indem es die eigentliche Tat weitgehend ausblendet und den Fokus auf die Stunden vor dem Suizid legt.

In der Inszenierung des 1984 geborenen Regisseurs David Heiligers, die am Samstagabend in den Münchner Kammerspielen Premiere feierte, ist der Tod ein stiller Gefährte. Heiligers verzichtet bewusst auf Schock-Effekte. Kein Blut ist zu sehen, keine nackte Haut und - nur die (vorgeblich) letzten 75 Minuten im Leben von Fräulein Rasch.

Fräulein Rasch, so erfährt man im Beiblatt, ist eine alleinstehende Verkäuferin mittleren Alters, konservativ, Angestellte einer Papierwarenfabrik. Dort "betreut" die adrett gekleidete Frau die Briefumschläge. Monatlich verdient sie 615,50 Mark - ein Gehalt, das keine großen Sprünge erlaubt, aber immerhin den Kauf einer etwas schickeren Crème. Kein schlechtes Dasein eigentlich, aber das Leben ist ja bekanntlich mehr als ein regelmäßiger Gehaltseingang.

Ihr Entschluss, dem Leben ein Ende zu setzen, ist längst gefallen. Ihr Motiv lässt sich höchstens erahnen. Im Beiblatt ist von einer "unfreiwilligen Jungfernschaft" die Rede und einem "einzigen, frühen, kurzen, peinlichen und traurigen Fall von Liebe". Mehr ist nicht zu erfahren, denn das Stück selbst kommt ohne Worte aus. Bis auf die Regieanweisungen zu Beginn wird nicht gesprochen. Die Stille beklemmt. Der Tod kommt auf leisen Sohlen.

75 Minuten lang folgt das Publikum der Abendgestaltung von Fräulein Rasch. Ein Abend voller Leere alleine zuhause. Sieht, wie sie ihre Jacke säuberlich aufhängt, mit der Fusselbürste bearbeitet und das Namenschild poliert. Sieht, wie sie die Einkäufe aus der Tüte holt, Essiggurken und Mineralwasser, um dann die Sonderangebote im Anzeigenblättchen zu studieren. Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über Vogelspinnen. Der Zuschauer sieht Fräulein Rasch beim Abschminken, Abendessen, Wassertrinken, bei der Handarbeit. Es deutet nichts darauf hin, dass die Protagonistin den kommenden Tag nicht mehr erleben möchte.

Eindrucksvoll gibt Annette Paulmann in dieser schlichten Inszenierung diese Frau, die ihre Verzweiflung hinter einer Maske aus Disziplin und Teilnahmslosigkeit versteckt. "Unglaublich ordentlich" vollziehe sich Selbstmord in den meisten Fällen, schrieb Franz Xaver Kroetz selbst zu seinem Stück. "Der Selbstmord, dessen Vorbereitungen ohne Übergang aus den täglichen und deshalb als normal erachteten Tätigkeiten heraus passieren, vollzieht sich mit der gleichen Ordnungsliebe, gleich säuberlich, bieder und stumm-trostlos wie das Leben, das ihn verursacht."

Wenn der Sinn des Lebens in eine Edeka-Tüte passt

Und das ist das eigentlich Bewegende an Kroetz' "Wunschkonzert": die Teilnahmslosigkeit eines Menschen, der weitgehend emotionslos seinem Ende entgegensieht. Kein Lachen, kein Grübeln, kein Weinen. Am Ende stellt Fräulein Rasch noch den Eierbecher fürs Frühstück am nächsten Morgen auf den Tisch.

Nur ganz selten verliert sie die Contenance. Etwa als sie, kurz vor dem Schlafengehen in einem Anflug von Verzweiflung beim Baden ihre Wohnung unter Wasser setzt.

Oder als die gründliche und pedantische Frau den Schinken nicht aufbekommt und nach zähem Ringen mit dem Plastik schließlich die Packung mit der Schere aufschneidet - um sich schließlich die Scheiben (samt den Trennscheiben aus Plastik) in den Mund zu schieben. Das ist dann aber schon Slapstick - und das Publikum weiß nicht, ob es jetzt lachen oder entsetzt sein soll.

Es gibt aber auch Minuten des vorsichtigen Glücks, etwa dann, wenn im Radio What a fool believes von den Doobie Brothers läuft und sich die Füße im Takt bewegen - um schließlich doch eine Überdosis Tabletten mit einem Piccolo-Fläschchen Sekt herunterzuspülen.

Als am Ende das Licht ausgeht und Annette Paulmann sich lachend vor dem Premierenpublikum verbeugt, ist offen, ob die Tabletten ihre Wirkung gezeigt haben. Aber darum geht es ohnehin nicht. Es geht auch nicht um den Tabubruch. Es geht um die tägliche Verzweiflung von Menschen - Scheintote, deren Träume in der Einsamkeit des täglichen Lebens verkümmert sind und deren Sinn des Lebens nicht einmal eine Edeka-Tüte füllt. Ob sie den Selbstmord als Ausweg wählen oder nicht, ist zweitrangig.

So zeigt auch das Bühnenbild von Teresa Vergho mehr ein Gefängnis als eine Wohnung: ein heller, enger Kubus, mit Kasten in verwaschenem Mintgrün, die Möbel imitieren. Die Protagonistin ist gefangen im Alltag und in ihrer eigenen Antriebslosigkeit.

Was soll sie an diesem letzten Abend sonst tun? Eine Party feiern? Weinen? Grübeln? Um den längst gefällten Entschluss doch noch einmal verwerfen? Oder die Zeit, die ihr noch bleibt, mit Bekanntem zu füllen? Mit Schönem, mit weniger Schönem - mit dem, was man eben Alltag nennt. Sie kennt es ja nicht anders.

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