Preis für Migranten-Unternehmen:Auberginen als Medizin

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Serdar Yildirim im Lager seiner Firma Micro Frucht, die 1200 verschiedene Artikel im Sortiment hat. (Foto: Natalie Isser)

Serdar Yildirims Firma vertreibt türkische Lebensmittel in ganz Europa. Sie helfen emigrierten Türken gegen Heimweh

Von Gerhard Fischer

Serdar Yildirim hält eine Flasche Wasser hoch und sagt: "Die ist aus dem Tarsus-Gebirge im Süden der Türkei, dort wurde auch der Apostel Paulus geboren." Petrus stamme auch von dort, aus irgendeinem Ort im Tal. "Wo das genau war, weiß ich nicht, da müssen Sie nachschauen." Einige Tage später meldet er sich per Mail, vermutlich hat er selber nachgesehen: Petrus sei dort nicht geboren, schreibt Yildirim. Er stamme aus Galiläa, im Norden des heutigen Israel. Kein Problem, diese kurze Irritation: Serdar Yildirim ist ja weder Historiker noch Kirchenmann, er leitet ein Unternehmen in der Großmarkthalle: "Micro Frucht" handelt mit Lebensmitteln. Die meisten kommen aus der Türkei.

Mesut Yildirim, Serdars Vater, hatte die Firma 1972 gegründet, um türkische Gastarbeiter mit türkischen Lebensmitteln zu versorgen. Auberginen als Medizin gegen Heimweh, sozusagen. Damals war es ein Mini-Betrieb. Heute ist Micro Frucht eine moderne Großhandelsfirma mit zweistelligen Millionen-Umsätzen, bis zu 25 Mitarbeitern und 1200 verschiedenen Artikeln. Die Firma beliefert Supermärkte, Handelsketten, Großhändler oder Gastronomen in ganz Europa. "Täglich gehen 100 Tonnen Waren raus", sagt Serdar Yildirim. Die Stadt München zeichnete Micro Frucht im Herbst mit dem Phönixpreis aus, dem Münchner Wirtschaftspreis für Migranten-Unternehmen.

Serdar Yildirim, 54, sitzt in seinem Büro auf dem Gelände der Großmarkthalle, breitet die Hände aus, legt sie auf die Rückenlehne des Sofas und erzählt, wie alles begann: Familie Yildirim lebte bis 1960 in Istanbul, Vater Mesut besaß eine Schneiderei mit 14 Angestellten und sei "ein Linker gewesen, ein junger Sozialdemokrat". 1960 war politisch ein heikles Jahr. Ermächtigungsgesetz. Militärputsch. Eine harte Zeit für die Opposition, für Leute wie Mesut Yildirim. "Die Nationalisten", erzählt Serdar Yildirim, "schossen mit Maschinengewehren auf das Schaufenster der Schneiderei". Mesut Yildirim beschloss, nach Deutschland zu gehen. Dort wurden gerade Gastarbeiter angeworben.

Familie Yildirim landete in Rosenheim. Mesut Yildirim war bei einem Zwischenstopp des Zuges ausgestiegen und hatte einen Mann mit Trachtenjanker und Gamsbart angesprochen, ob er Arbeit für ihn hätte. Der Mann besaß eine Papierwarenfabrik. Und er hatte Arbeit. Sohn Serdar lebte zunächst bei den Großeltern in der Türkei, er kam dann als Dreijähriger nach Deutschland. Die Yildirims wohnten im Ortsteil Kastenau, in der Nähe von Marinus Fischbacher. Dessen Bruder Siegfried wurde später als Zauberkünstler und Dompteur berühmt - zusammen mit Roy. Und er war damals öfter in Kastenau. "Siegfried Fischbacher hat mir meine ersten Radfahrübungen beigebracht", erzählt Serdar Yildirim. Er lächelt. Und er ist offenbar ein bisschen stolz darauf.

Serdar Yildirim war das einzige Ausländerkind in seiner Klasse. Einerseits hatte er eine schöne Kindheit in Bayern mit draußen spielen und Bäume hochklettern: "Ich bin einen Baum hochgekraxelt, der war zehn Meter hoch", erzählt er. Yildirim nimmt die Arme von der Sofalehne, er deutet nun mit der einen Hand an, wie klein er und wie riesig der Baum gewesen ist - auch wenn die Höhe des Raumes dafür nicht ausreicht. Yildirim setzt seinen Körper ein, wenn er spricht, er ist viril, dominant. Er redet laut. Wenn er spricht, erwartet er, dass man ihm zuhört. Und dass kein anderer redet. Sie sammelten Kastanien in Kastenau, erzählt er, und gaben sie beim Förster ab. Sie spielten Fußball beim SB Rosenheim. Er hatte Freunde.

Anderseits war die Kindheit auch - grauenvoll. Der Junge war anders. Er hatte tiefschwarze Haare. Er kam aus der Türkei. Viele lehnten Ausländer ab. "Eltern haben ihre Kinder auf mich gehetzt", sagt Yildirim. Wie bitte? "Ja, da gab es einen Vater, der hetzte sein Kind gegen mich auf, und der hat dann sein eigenes Kind geschlagen, weil es mich nicht besiegen konnte."

Und dann gab es dann noch einen anderen, der ihn quälte. "Einen Bauernburschen", erzählt Yildirim, "der auf dem Schulweg mit seinem Rad an mir vorbei fuhr und mir jeden Tag eine reingehauen hat - das tat mir so in der Seele weh." Serdar Yildirim verzieht keine Miene, als er das mit seiner Seele erzählt. Weinerlichkeit ist nicht sein Ding. Außerdem kommt noch etwas: Er hat sich nämlich gewehrt. Als der Bursche wieder einmal zuschlagen wollte, packte er ihn und schmiss ihn samt Fahrrad auf den Boden. "Er hat geblutet, aber ich bin auf ihn drauf und schrie: Machst du das noch mal? Machst du das noch mal?" Von diesem Tag an war Ruhe.

"Ich musste mich durchsetzen", sagt Serdar Yildirim. Zumal der Vater ihm nicht half. "Der war streng und gab immer mir die Schuld - ich musste die Sachen selber erledigen." Man muss eigentlich nicht erwähnen, dass das prägt.

Die Familie ging nach München, Mesut Yildirim gründete 1972 mit einem Partner die Firma "Micro Frucht Handels GmbH", die damals in der Zenettistraße zu Hause war. Die Waren, die per Flugzeug kamen, wurden an türkische Händler in München verkauft - und an deutsche Händler mit türkischen Kunden. Irgendwann stieg der Teilhaber aus, und Mesut Yildirim bekam erst Hilfe vom Bruder, dann von den beiden Söhnen. Der Vater war damals schon herzkrank, er konnte nicht immer in die Firma, die Mutter sagte zu Serdar: Hilf ihm! "Ich habe die Firma dann maßgeblich aufgebaut, zusammen mit meinem Vater", sagt Serdar Yildirim, der eigentlich Elektromechaniker gelernt hatte.

1983 zogen die Yildirims mit einem Obst- und Gemüsestand in die Großmarkthalle - als erste türkische Firma. Sie übernahmen den Stand eines Italieners und verkauften Obst und Gemüse aus der Türkei: Kirschen, Paprika, Auberginen, Zucchini. Aber es gab Probleme, im Grunde waren es die gleichen, die Serdar Yildirim als Kind in Rosenheim erlebte. Es gab Anfeindungen, Rempeleien und Handgreiflichkeiten. Es gab Rassismus. Oder wie soll man es sonst nennen? "Kleine Apartheid", sagt Yildirim.

1986 begannen sie, mit einem Sattelschlepper frische Kirschen aus der Türkei nach München zu schaffen. "Das war für damalige Zeiten eine Sensation und revolutionär für die gesamte Logistikbranche", sagt Serdar Yildirim. "Die Schlepper waren drei, vier Tage unterwegs, und wir mussten dafür sorgen, dass die schnell verderbliche Ware nicht kaputtging." Sie verwendeten moderne Kühltechnik. "Wir haben die Bergkirschen aus der tiefsten Osttürkei geholt, aus 3000 Metern Höhe, wo die Sonneneinwirkung besonders günstig ist", sagt er, "die besten sind Napoleonkirschen, das sind solche Oschis." Er öffnet die Hand und formt sie zu einem großen Bogen. "So groß wie Walnüsse", sagt er.

Es folgten Paprika, Birnen, Lauch, Oliven, Salate - und Pfirsiche aus Bursa. "Das sind die besten der Welt", sagt Yildirim. Diesmal formt er nicht die Hände, um die Größe zu zeigen. Der Superlativ reicht.

"Die Achtzigerjahre waren golden", sagt Yildirim, "wir haben viel Ware verkauft, es war - bis zum Mauerfall - ein großer Aufschwung in Deutschland." Außerdem war die Türkei als Urlaubsland beliebt. Die deutschen Touristen kamen zurück und wollten die Produkte, die sie im Urlaub aßen, auch zu Hause haben. Serdar Yildirim hatte keinen Urlaub. "Ich bin um drei Uhr in der Früh aufgestanden und in die Großmarkthalle", erzählt er, "ich habe 16 Stunden am Tag gearbeitet - meine Freunde haben Ansichtskarten aus Ibiza geschickt und ich war immer hier." Man hört Stolz heraus. Und ein bisschen Bedauern.

In den Achtzigerjahren waren 800 Unternehmen in der Großmarkthalle, heute sind es nur noch 400. Damals liefen Gleise auf das Gelände, damit die Züge, die aus dem Ausland kamen, die Waren abliefern konnten. Auch die Züge des Zirkus Krone kamen hier an, und einmal, als die Arbeiter von Micro Frucht ihr Obst und Gemüse aus dem Waggon holen wollten, starrten ihnen Löwen entgegen. Heute werden fast alle Waren mit Lastwagen angeliefert - und auch mit Lastwagen weitertransportiert. Micro Frucht hat drei Sattelschlepper und einen Lkw und arbeitet überdies mit Spediteuren zusammen. "Wir können unseren Kunden die Ware innerhalb von 24 Stunden liefern", sagt Yildirim.

Mesut und Serdar Yildirim hatten die Firma groß gemacht, und Mesut Yildirim kümmerte sich auch um die Integration und das gesellschaftliche Leben der Türken in München - etwa als Präsident des Fußballvereins Türk Gücü, der bis in die Bayernliga aufstieg und gegen 1860 spielte. "Vor 25 000 Zuschauern!", ruft Yildirim in dem Raum. Das ist zwar etwas übertrieben, denn in den Archiven findet man die Zahl 15 000, aber viel ist das auch.

Im Jahr 2000 starb Mesut Yildirim. Es folgte eine harte Zeit, auch wirtschaftlich. Micro Frucht wurde zwischen den beiden Söhnen aufgeteilt, Serdar Yildirim bekam den Bereich Lebensmittelgroßhandel und den Firmennamen. "Zusammen mit allen Mitarbeitern gelang es, die Firma zu reorganisieren und bald wieder in die Gewinnzone zu führen", schrieb Yildirim in seiner Bewerbung für den Phönixpreis.

Er ist aufgestanden und will den Gast noch durch das Lager führen. Dort sieht man Doraden aus der Türkei oder Thunfisch. "Wir liefern zehn, 15 Tonnen Fisch pro Woche aus", sagt er. "Und wir können jeden Fisch liefern." Wieder klingt er stolz. Dann geht Yildirim weiter. Bleibt schließlich bei einem Produkt stehen, das Vegata heißt. "Das ist eine Gewürzmischung aus Kroatien", sagt er, "die haben wir importiert und hier auf den Markt gebracht, damit sie vor allem jugoslawischstämmige Menschen haben können." Micro Frucht verkauft auch chinesische oder arabische Produkte. Aber die Abnehmer seien "weiterhin größtenteils türkischer Herkunft".

Seine eigene Herkunft spielt heute in der Großmarkthalle keine Rolle mehr. "Die deutschen Händler sind längst nicht mehr feindlich gesinnt", sagt Yildirim. Er lächelt. "Heute sind sie froh, dass wir da sind - ohne den türkischen Einzelhandel wäre die Großmarkthalle nicht mehr lebensfähig."

© SZ vom 13.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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