Porträt:Volare, oh oh

Ende der Fünfzigerjahre kam Vittorio Micciche von Süditalien nach Schwabing. Die Geschichte eines musikalischen Akkordarbeiters

Von Johannes Korsche

Vittorio Micciches Leben ist die Geschichte eines musikalischen Akkordarbeiters im Deutschland der 1960er Jahre. Es ist die Geschichte einer italienischen Familie, die sich von Süditalien aus aufmachte, um international bekannt zu werden. Vor allem aber ist es die Geschichte seiner Schwester, die unter dem Künstlernamen Maria Morales Konzerte in ganz Europa spielte. Selbst Elvis Presley wollte an einem Augustabend 1959 einen ihrer Auftritte besuchen. Allerdings kam der King damals nicht hinein in das Frankfurter Nachtlokal. "Für die ,Heulboje' aus den Staaten", schrieb die Frankfurter Abendpost damals, war schlicht "kein Plätzchen mehr frei". Vittorio Micciche, 73, sitzt in seinem Schwabinger Wohnzimmer und durchblättert den Ordner, in dem er seine "Schätze" in Klarsichtfolien bewahrt: Zeitungsartikel, Fotos und Erinnerungen an die "gute Zeit", wie er sie nennt. Wenn der Italiener davon erzählt, ist er nicht mehr im Jahr 2016, sondern im Jahr 1961, im Schwabinger Lokal "Fendilator", in dem er als 18-Jähriger monatelang jeden Abend auftrat.

"Sex, Tanz, Gesang" - so kündigten die Zeitungen die Auftritte damals an. Wer Micciches größten Schatz anschaut, versteht das: Filmaufnahmen von einem Fendilator-Auftritt. Maria Morales in einem engen, silbernen Kleid, das ihre Figur betont. Ihre langen braunen Haare schwingen im Takt, den Blick hat sie verführerisch in die Kamera gerichtet. Heute würde man sagen, sie flirtet mit dem Publikum - damals waren die Leute sprachlos. Neben ihr spielt Vittorio Bass, dahinter Bruder Giovanni am Schlagzeug. Die Besucher, zumeist Männer mittleren Alters in Anzügen, tanzen oder blicken verzaubert auf die Bühne.

Eine Frau, die auf der Bühne nicht nur singt, sondern auch tanzt - "das war damals etwas Neues", erzählt Vittorio Micciche. Für drei, manchmal vier Monate im Jahr traten sie jeden Abend im Fendilator auf. Immer bis spät in die Nacht, immer dort arbeiten, wo andere ihren Arbeitsalltag vergessen - gute Stimmung als Akkordarbeit. Aber so haben sie gut verdient. "Wir hatten es schon besser als andere italienische Einwanderer", sagt Micciche, 1300 Mark habe er damals im Monat bekommen. Genug, um davon zu leben und die Verwandten in Italien zu unterstützen. "Maria bekam mehr, vielleicht um die 2000 Mark." Das durchschnittliche Jahreseinkommen in Deutschland betrug 1960 knapp 4800 Mark.

Porträt: Heute tritt Vittorio Micciche, 73, als "Vitto Micce" auf.

Heute tritt Vittorio Micciche, 73, als "Vitto Micce" auf.

(Foto: privat)

So viel Erfolg bleibt nicht unbemerkt und schon gar nicht unbeneidet. Im Oktober 1961 berichten einige Zeitungen vom "Münchner Trompeten-Krieg": "Kein Engagement für deutsche Kapellen - Italiener dürfen bleiben", lautet eine Schlagzeile. Mit "Italiener" ist Micciches Band gemeint. Hintergrund ist ein Gesetz, wonach ausländische Arbeitskräfte erst dann eingestellt werden dürfen, wenn keine geeigneten deutschen vorhanden sind. Als 1961 selbst in der Faschingszeit an die 200 deutsche Musiker kein Engagement finden, läuft die Musiker-Gewerkschaft Sturm. Sie fordert, dass das Gesetz angewandt wird. Doch Martin Katz, der damalige Betreiber des Fendilator, weigert sich. "Mit deutschen Bands kann ich zumachen, hat er immer gesagt", erinnert sich Micciche. Keiner bringt damals so viel Umsatz wie Maria Morales. Vielleicht habe ihm diese Debatte deshalb nichts ausgemacht, oder er sei noch zu jung gewesen, um das alles zu verstehen, sagt Vittorio Micciche heute. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Micciche schon damals wusste, was ein Krieg tatsächlich bedeutet.

Denn bevor Micciche und seine Geschwister berühmt wurden, haben sie Erfahrungen gemacht, die für ein ganzes Leben reichen. Ihr Vater wurde zur italienischen Armee eingezogen, um 1935 für Mussolini im Abessinienkrieg das heutige Äthiopien zu kolonialisieren. Als er wieder nach Sizilien zurückkehrte, packte der Vater die ganze Familie ein. Weg aus dem faschistischen Italien, hin zu einem ruhigeren Leben in Asmara, einem kleinen Städtchen in Eritrea. Schnell baute er dort eine Schreibmaschinenfabrik auf und wurde zu einem "wohlhabenden Mann", sagt Micciche.

1949 - in Europa ist mittlerweile Frieden - und Vittorio Micciche sechs Jahre alt, zieht die Familie zurück nach Italien, nach Padua. "In Italien Arbeit zu finden, war damals wie heute schwierig." Also eröffnete sein Vater ein Kino, kaufte von dem Ersparten eine Konditorei - und ging bankrott. Binnen weniger Jahre rutscht er ab vom angesehenen Geschäftsmann zum mittellosen Familienvater. In der Hoffnung, dass die Verwandtschaft sie unterstützt, machte sich die Familie erneut auf, diesmal nach Triest. "Das war eine viel schönere Stadt für mich, direkt am Meer." Aber die Geldsorgen verschwanden nicht. Im Gegenteil: "Wir waren immer mit der Miete im Verzug. Es ging uns nicht gut." Bis Maria 1955 an einem Gesangswettbewerb von Radio Triest teilnahm. Es folgten die Jahre, an die sich Micciche beim Durchblättern seines Ordners gerne erinnert: "Die gute Zeit."

Maria Morales, Bass/Gitarre: Vittorio Micciche, Schlagzeug: der gemeinsame Bruder

Das Foto zeigt die Geschwister (von links) Vittorio, Maria und Giovanni Micchiche bei einem Auftritt 1961.

(Foto: privat)

Bis Maria 1967 genug hat vom Singen. Sie heiratet, zieht nach Wiesbaden und eröffnet ein Lokal. Doch so viel Glück Maria als Sängerin auch hatte, von nun an begleiten Schicksalsschläge ihr Leben. Ihr Sohn wird mit einer Behinderung geboren, die Lebenserwartung für das Kind liegt bei gerade mal 30 Jahren. Einige Jahre später bekommt Maria Lungenkrebs. "Mein Schmerz ist, dass meine Schwester schon mit 60 Jahren gestorben ist", sagt Micciche leise. Viel zu früh, gerade als sie wieder zu singen anfangen wollte. Gut 20 Jahre ist der Tod seiner Schwester nun her. Micciche trauert noch heute um sie.

Sein Leben verlief auch nach dem Tod der Schwester turbulent. "Ruhe habe ich nie gehabt - immer Action", sagt er mit festerer Stimme. Als die Band sich auflöst, wandert er mit seinem Bruder Giovanni nach Australien aus, wo aus dem Musiker ein Elektromechaniker wird. Nach einigen Jahren - in München finden damals die Olympischen Spiele statt - packt seine Frau Christa das Heimweh. Die beiden hatten sich einst bei einem der Auftritte im Fendilator kennengelernt. Christa also will zurück nach München, nach Schwabing, wo sie aufgewachsen ist.

Vittorio Micciche findet Mitte der Siebzigerjahre Arbeit bei Knorr-Bremse in München. Vom glamourösen Leben eines Musikers ist nicht mehr viel übrig. "Lange habe ich gar nicht mehr daran gedacht, Musik zu machen." Erst mit der Pensionierung kam die Lust, die Familientradition wieder zu beleben. Seitdem tritt er als "Vitto Micce" - "Micciche ist einfach kein guter Name für einen Künstler" - mit seiner Gitarre und Background-Musik auf Festen wie dem Corso Leopold auf. Neben italienischen Klassikern wie "Volare" singt er Lieder von Frankie Laine, Jim Croce und Elvis Presley. So gut, dass er vor zwei Jahren bei einem Elvis-Doppelgänger-Wettbewerb den zweiten Platz erreichte - obwohl er nicht mal wie Elvis angezogen war. Nach einem Leben auf drei Kontinenten, nach Glück und Tragik für mehr als nur ein Leben ist Micciche heute ausgerechnet an dem Ort zur Ruhe gekommen, an dem vor 60 Jahren sein bewegtes Leben begann: in Schwabing.

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