Polizisten im Einsatz:Wenn sich der Schuss löst

"Polizei, stehen bleiben, oder ich schieße!" Eines Nachts stürmt ein Mann mit Messer auf Peter W. zu, der Polizist drückt ab. Es ist Notwehr, in Einsatztrainings war er zudem auf derartige Situationen vorbereitet worden. Dennoch: Mit den Folgen dieser Nacht kämpft der Beamte bis heute.

Susi Wimmer

Vergessen. Vergessen wird Peter W. nie. Er wird sich immer minuziös erinnern. An den Tag, die Uhrzeit, den Gehsteig, das Messer. Das Gesicht seines Gegenübers, die weit aufgerissenen Augen. Die merkwürdige Stille nach dem Schuss. Die Fassungslosigkeit.

SCHIEßTRAINING DER POLIZEI AUF SCHIEßANLAGE IN VIERSEN

Der Griff zur Dienstwaffe muss sitzen - und wird immer wieder geübt. (Symbolbild)

(Foto: dpa)

Im Februar jährt es sich zum 25. Mal, dass der junge Polizeiobermeister Peter W. auf der Nymphenburger Straße in Notwehr einen Autoaufbrecher erschossen hat, als dieser mit einem Messer auf seine Brust einstechen wollte. "Ich muss alles so annehmen, wie es ist", sagt der heute 51-Jährige, "das ist mein Leben".

Der Tag, an dem sich das Leben von Peter W. schlagartig verändert hat, war der 5. Februar 1987. Der Moment auf der Nymphenburger Straße versetzte Peter W. in eine emotionale Achterbahn. Jubel darüber, dass er den Angriff des Mannes überlebt hatte. Und der Schock, einen Menschen getötet zu haben. "Er war ungefähr so alt wie ich."

Heute hält Polizeihauptkommissar W. Vorträge vor jungen Kollegen. Über Eigensicherung, den Polizeiberuf, die Risiken, dass eine Verhaftung immer gleich ist und doch jede anders, dass es 50 Mal gutgehen kann und einmal nicht. Und dass man auf dieses eine Mal vorbereitet sein muss. "Lernt jetzt gut", sagt er ihnen, "es kann euer Leben retten". Wenn der 51-Jährige heute von dem getöteten Kollegen in Augsburg hört, denkt er unweigerlich, "was habe ich damals Glück gehabt".

Schicksal. Glück. Unglück. Alles lag so nah beieinander in dieser Nacht. Peter W. hätte eigentlich frei gehabt. Der 26-Jährige war damals Zivilfahnder bei der Inspektion Neuhausen, hatte schon eine Nachschicht hinter sich, als der Chef fragte, ob er noch eine dranhängen könne, man suche einen Wohnungseinbrecher. Peter W. war jung, ledig und sagte sofort zu, "weil ich wollte das Verbrechen bekämpfen". In Zivil fuhren sie los, doch der Einbrecher ließ sich nicht blicken.

W. sah ein Messer blitzen

Dafür entdeckte W. kurz nach Mitternacht auf der Nymphenburger Straße einen Mann, der an ein Auto gelehnt stand, irgendetwas in der Hand schwenkte. "Der schaut komisch aus", entfuhr es dem Polizisten, "das könnte der Autoknacker sein". Denn zu der Zeit machte eine Serie von Autoaufbrüchen der Neuhauser Polizei zu schaffen. Sie suchte nach einem Täter, der ein spezielles Instrument einsetze, durch das Autoscheiben geräuschlos zerbröselten. Dann klaute er Radios und alles, was zu finden war.

Peter W. stieg aus und sagte zum Kollegen, er solle den Wagen wenden und ihm zu Hilfe kommen. Der Verdächtige wechselte die Straßenseite, Peter W. sah, dass an den Autos auf seiner Seite die Scheiben fehlten. Per Funk gab er durch: "Bingo, das ist er", und wechselte ebenfalls die Straßenseite. Da hockte der Dieb im nächsten Wagen und zog am Radio.

Die Kollegen waren in Sichtweite. Peter W. trat an das Auto heran: "Polizei! Lass den Gegenstand fallen und leg die Hände auf das Armaturenbrett", sagte er. Da drehte sich der Mann zu ihm, W. sah ein Messer blitzen. "Leg es weg", rief er. Der andere griff zur Tür, sprang aus dem Wagen und ging mit dem Messer direkt auf den Polizisten los. W. hatte seine Waffe in der Hand, "zur Eigensicherung".

"Er hat nicht einmal Aua gesagt"

Die folgende Situation wird Peter W. wieder und wieder durchspielen: Er geht einen Schritt zurück, hebt die rechte Hand und drückt ab. "Reflexartig. So, wie ich es in der Ausbildung gelernt hatte." Es kracht ohrenbetäubend. Später, sagt Peter W., hatte er den Eindruck, er habe das Projektil aus dem Lauf schießen sehen. Die Männer sehen sich in die Augen, erschrecken. "Er hat nicht einmal Aua gesagt", der Satz von Peter W. klingt heute noch verstört. Dann rennt der Autoaufbrecher an ihm vorbei. "Ich hab' geschossen, hab' ich nicht getroffen? Wieso zeigt der keine Reaktion?", denkt der Fahnder. Er schreit: "Polizei, stehen bleiben, oder ich schieße!"

Da dreht der Mann ab und stürmt wieder auf ihn zu. "Das kann nicht sein, wach auf!", denkt W.. Und schießt erneut, zielt auf die Beine. Der Mann sackt zusammen und liegt auf dem Rücken, noch immer das Messer in der Hand. "Warum machst du das?", fragt Peter W. entsetzt. Der andere hat die Augen halb offen und antwortet nicht. W. öffnet seine Jacke, sieht das Einschussloch im Bauch, die Schmauchspuren, dann wird ihm heiß und kalt.

Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt der Autoaufbrecher. "Es war wie ein Keulenschlag", erzählt Peter W. Sein Chef kommt, bugsiert ihn ins Polizeiauto, stellt seine Waffe sicher. Ein normaler Vorgang. Peter W. denkt: "Warum? Hab ich falsch gehandelt?" Man bringt ihn auf die Dienststelle, der Oberstaatsanwalt vernimmt ihn als Zeugen, nicht als Beschuldigten, nach der ersten Bewertung geht man von Notwehr aus.

Dann sitzt Peter W. verloren da. Die Kollegen reagieren unsicher. "Gut gemacht", sagt der eine, "die Waffe hätt' ich mit Fußkick weggemacht", meint der andere. W. hat nur das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Der Direktionsleiter bietet ihm seine Hilfe an und fährt ihn heim. Er könne frei nehmen, bietet er an.

Doch Peter W. will weitermachen. Die nächste Nachtschicht gerät zum Déjà-vu: Ein Dealer steht ihm gegenüber, das Messer in der Hand. "Wegwerfen, vor kurzem hatte ich so eine Situation", droht er dem Gegenüber. Der gehorcht sofort. Peter W. geht nach draußen, zündet sich eine Zigarette an. "Natürlich hofft man, dass man die Waffe nie mehr benutzen muss", sagt er. Gleichzeitig weiß er, dass er aufgrund seines Erlebnisses nicht falsch reagieren darf. Dass er im Zweifelsfall noch mal die Pistole ziehen müsste, um sich selbst oder andere zu schützen.

Er lebt zurückgezogen, redet viel mit Freunden. Die Ermittlungen in seinem Fall werden eingestellt. Er habe zweimal aus Notwehr geschossen, ist das Ergebnis. Peter W. fällt ein Stein vom Herzen. Er fliegt nach Griechenland, rennt stundenlang am Strand spazieren, fragt sich: Was hätte ich anders machen können? Und kommt am Ende zu dem Schluss: nichts. In diesem Augenblick, sagt er, sei der Stein von seiner Seele gefallen.

Zehn Jahre später schaut er sich bei den Kollegen vom Kommissariat 111 die Tatortfotos an. Er sieht das Messer, die Leiche, die Obduktionsfotos. Er kann das Geschehen nüchtern betrachten, "es war noch einmal so eine Art Abschluss". Seitdem, sagt er, lebe er bewusster, sauge das Schöne auf und genieße mehr. Die Nacht des 5. Februar allerdings wird nie weg sein, "sie bleibt eingebrannt in meinem Kopf".

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