Planegg/Neuried:Auf Gegenseitigkeit

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Das Projekt "Wohnen für Hilfe" nutzt Jung und Alt

Von Rainer Rutz, Planegg/Neuried

"Mir geht es sehr, sehr gut". Jonas Binder, 20 Jahre und Student der Pharmazie, gerät geradezu ins Schwärmen, wenn er von seinem neuen Zuhause erzählt. Der aus dem Raum Stuttgart stammende junge Mann lebt seit einigen Monaten bei Heidi und Günther Tempich in deren Haus mit Garten in Neuried. Das Besondere daran: Jonas Binder zahlt nur einen geringen Teil der eigentlich fälligen Miete samt Nebenkosten für das 40 Quadratmeter große Appartement im Haus der Rentner - im Gegenzug hilft er kräftig beim Garteln auf dem 1000 Quadratmeter großen Grundstück.

"Wohnen für Hilfe" nennt sich das Modellprojekt, das ursprünglich aus dem Seniorentreff Neuhausen stammt und sich mittlerweile unter den Fittichen des Landkreises München befindet. Das Procedere ist schnell erklärt: Wohnen für Hilfe vermittelt Wohnpartnerschaften vor allem zwischen Senioren und Studenten oder Auszubildenden. Statt Miete zu bezahlen, unterstützen die Jüngeren die älteren Menschen bei der Bewältigung des Alltags. Aktuelle Grundlage ist die durch eine Umfrage unter 10 000 Befragten im Landkreis München ermittelte Erkenntnis, dass die meisten älteren Menschen in ihrer häuslichen Umgebung bleiben wollen, oft aber die Aufgaben in Haus, Wohnung oder Garten nicht mehr alleine bewältigen können.

Auf der anderen Seite gibt es viele Studenten, die vergebens eine Wohnung suchen oder die teuren Mieten nicht bezahlen können. Sie können sich an Wohnen für Hilfe wenden und werden dann nach einem strengen Auswahlverfahren vermittelt. "Zuvor wird ein ausführliches Gespräch geführt, wir prüfen die angebotene Wohnung und machen einen Vertrag", erzählt Ursula Schneider-Savage vom Seniorentreff. Die Formel lautet: Je ein Quadratmeter Wohnraum wird mit jeweils einer Stunde Arbeit pro Monat verrechnet.

Bei Jonas Binder ist es ein wenig anders: 40 Stunden Arbeit nur im Garten können seine Wirtsleute nicht anbieten, also wird die Zeit verrechnet, in der der junge Student Laub recht, Moos sticht, Hecken und Rasen schneidet und im Winter auch Schnee räumt. Denkbar sind auch Hilfe beim Einkaufen, Unterstützung im Haushalt, auch mal gemeinsames Ausgehen. "Nur Pflegedienste werden nicht geleistet", stellt Marion Schwarz, die Geschäftsführerin des Vereins klar, "Senioren wollen ein Stück Sicherheit haben, oft geht es auch um Einsamkeit, viele leben alleine und sind froh, wenn jemand im Haus oder der Wohnung ist, auch bei Reisen" - oder "Unwetter und Sturm", wie Heidi Tempich lachend ergänzt. Jedenfalls ist es ein klassisches Win-to-win-Modell, das auf diese Weise gelebt wird.

15 Prozent aller Interessenten sind Ehepaare, 70 Prozent sind alleinstehende Frauen, Durchschnittsalter etwa 80 Jahre. Zehn Prozent sind alleinstehende Männer, selten werden auch junge Familien unterstützt. Allein 2013 haben 250 junge Frauen und Männer bei Wohnen für Hilfe nachgefragt, rund 55 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Seit Bestehen im Jahre 1998 wurden mehr als 450 Wohnpartnerschaften geschlossen, 40 waren es im Jahre 2013, Tendenz stark steigend.

Das Neurieder Ehepaar ist von dem Projekt begeistert. Günther Tempich hat Rückenprobleme, oft schon wurde er operiert, schwere Gartenarbeit ist für ihn mittlerweile undenkbar: "Für uns war auch klar, dass es ein Mann sein muss, der wegen der doch oft schweren Arbeit bei uns wohnt." Da kam Jonas Binder wie gerufen - auch, weil die Fakultät für Pharmazie ganz in der Nähe in Großhadern liegt.

Jonas selbst nennt praktische Gründe für seine Wahl: "Oft müssen wir Studenten Hunderte von Euro für ein zehn Quadratmeter großes Zimmer in einer WG zahlen, wenn wir überhaupt eines bekommen." Er hat kurze Zeit in einem Studentenheim gelebt, seine jetzige Unterkunft ist dagegen geradezu luxuriös. Jonas hat zuvor im Bundesfreiwilligendienst gearbeitet, seine Einstellung zu sozialen Projekten und Senioren ist positiv: "Von älteren Menschen kann man viel lernen." Das Leben bei den Neuriedern ist für ihn auch eine Abwechslung vom Uni-Alltag. Und umgekehrt haben seine Wirtsleute viel Verständnis für junge Leute: "Wir haben Kinder und Enkel und sind der Jugend gegenüber aufgeschlossen." So ist nach nur wenigen Wochen bei gegenseitiger Sympathie eine Art familiärer Atmosphäre entstanden - ganz im Sinne des Projektes Wohnen für Hilfe.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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