Planegg:Erinnerung in Zeilen

Bei der offenen Schreib- und Erzählwerkstatt in Planegg lernen die Teilnehmer, ihr Leben auf Papier zu bringen - und manches hat das Potenzial zum kulturhistorischen Dokument

Von Franziska Gerlach, Planegg

Den Respekt vor dem weißen Blatt, den kennen sogar jene, die mit Texten ihr Geld verdienen. Insofern ist es völlig in Ordnung, wenn Gertraud Zeller zunächst ein wenig zweifelt. "Das Rechnen ging in der Schule gut, aber das Schreiben war immer schwierig für mich", erinnert sich die 83-jährige Planeggerin. Die Gedanken seien ja da, nur: Wie bringt man diese zu Papier?

Erika Klemt schmunzelt. Die Leiterin von Archiv & Galerie in Planegg hatte erstmals zur offenen Schreib- und Erzählwerkstatt eingeladen, und deshalb informiert sie die betagteren Herrschaften an diesem Vormittag zunächst über den Ablauf des auf mehrere Monate angelegten Workshops. Sonderlich viel muss nicht mitbringen, wer an dem Projekt teilnehmen will. Im Grunde brauche man nur Papier, Stift und jede Menge Erinnerung, so Klemt. Das Angebot richte sich im Übrigen nicht nur an Planegger. Und wer lieber nur erzählen möchte, für den übernimmt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin das Schreiben.

Kursleiterin Klemt stellt zudem klar, dass nicht die gesamte Lebensgeschichte in einem Guss abgebildet werden soll. In der Schreib- und Erzählwerkstatt nähert man sich der eigenen Kindheit und Jugend in kleinen Schritten, ganz behutsam. Als Thema der kurzen Texte bietet sich etwa der Kirchgang oder ein Sonntagsspaziergang an, aber auch der erste Schultag. Dieter Friedmann verbindet mit diesem Ereignis vor allem die Schultüte - beziehungsweise die Tatsache, dass er 1946, ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, keine bekommen habe: "Aber da die anderen auch keine hatten, ist das gar nicht aufgefallen."

Planegg: Fein säuberlich: Auch die Geschichten rund um den ersten Schultag vor vielen Jahrzehnten finden sich in den handschriftlichen Manuskripten.

Fein säuberlich: Auch die Geschichten rund um den ersten Schultag vor vielen Jahrzehnten finden sich in den handschriftlichen Manuskripten.

(Foto: Robert Haas)

Erinnerungen wie diese sind es, die Wolfgang Hölzel für seine drei Enkelkinder aufschreiben will. Allen Kriegswirren zum Trotz wohne die Familie mittlerweile in fünfter Generation im Würmtal. "Die Würm zieht sich quasi wie ein roter Faden durch unser Familienleben", sagt er und sorgt für Erheiterung in der kleinen Runde. Und auch, als Klemt den Teilnehmern zehn Minuten Zeit gibt, einige Sätze über den eigenen Namen zu schreiben, beweist Hölzel Humor.

Er sei nach dem einzigen Bruder seiner Mutter benannt worden, der einige Jahre vor seiner Geburt ums Leben gekommen sei, liest der 74-Jährige später vor. Der Onkel, den er nie kannte, müsse "ein ausgesprochen liebenswerter junger Mensch" gewesen sein, sportlich und gut aussehend. Hölzel: "Ich habe mich lebenslänglich bemüht, diesem unbekannten Vorbild gerecht zu werden." Auch Gertraud Zeller geht das Wagnis ein und schreibt in geschwungenem Sütterlin, was ihr zu ihrem Vornamen in den Sinn kommt. Ihre Familie habe sie immer Traudi genannt, so die 83-Jährige: "Wenn mein Vater aber Gertraud zu mir sagte, war es besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Dann hatte ich bestimmt etwas angestellt."

Planegg: Aufmerksam: Gertraud Zeller und Wolfgang Hölzl gehören zu den Teilnehmern der offenen Schreib- und Erzählwerkstatt in Planegg.

Aufmerksam: Gertraud Zeller und Wolfgang Hölzl gehören zu den Teilnehmern der offenen Schreib- und Erzählwerkstatt in Planegg.

(Foto: Robert Haas)

Und von einem Moment zum anderen ist Zellers anfängliche Scheu wie weggeblasen, der Austausch in der Gruppe scheint ihr gutzutun. Ein aufmunterndes Lächeln hier, ein bestätigendes Kopfnicken da. Und natürlich wird nicht nur geschrieben, sondern auch geredet. Emotionen und Erinnerungen setzen wohl beide Kommunikationsformen frei. Früher sei man noch an Ostern eingeschult worden, sagt Zeller. Auch an ihre erste Lehrerin erinnere sie sich noch, groß und blond sei diese gewesen: "Aber der Name fällt mir nicht mehr ein." Macht aber nichts, denn bei den im Workshop verfassten Texten kommt es nicht auf ein vollständiges Bild an. Zwar wird vieles sicherlich das Potenzial zum kulturhistorischen Dokument haben, doch Detailversessenheit und Perfektionismus sind dabei nicht ausschlaggebend. "Wir wollen die gelebte Zeit aus dem heutigen Blickwinkel aufspüren und nacherzählen", sagt Klemt. Das klingt, als wolle sie die Teilnehmer auf eine Reise mitnehmen: Nachdenken, Erinnern, Sortieren und Schreiben. Und dann ist auch der Respekt vor dem weißen Blatt weg.

Die offene Schreib- und Erzählwerkstatt findet jeden Dienstag um zehn Uhr bei Archiv & Galerie in Planegg statt, Pasinger Straße 22.

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