Krailling-Prozess:Mehr als Habgier

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Polizisten sprechen vom grausamsten Mord der vergangenen 30 Jahre in München, Zeugen beschreiben den Mann als "eiskalt" und "hämisch". Seit zwei Monaten muss sich Thomas S. vor Gericht verantworten. Er soll seine Nichten aus Habgier umgebracht haben. Vor den Plädoyers gibt "Süddeutsche.de" Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Anna Fischhaber

Etwas Gutes hat kaum jemand der mehr als 60 geladenen Zeugen über diesen Mann zu sagen. Seine Schwiegermutter nicht, seine Arbeitskollegen nicht, selbst Mithäftlinge nennen ihn "eiskalt". Erfahrene Ermittler berichten von seinem inadäquaten Witzeln in Verhören. Seit zwei Monaten wird gegen Thomas S. vor dem Landgericht München II verhandelt. Der Familienvater soll Chiara, acht Jahre alt, und ihre Schwester Sharon, elf, in deren Wohnung in Krailling bei München umgebracht haben. Bislang schweigt der 51-Jährige zu den Vorwürfen, macht nur durch sein dauerndes Grinsen auf sich aufmerksam.

Doppelmord von Krailling
:"Eine noch nie dagewesene Tat"

Mit Messer, Hantel und Seil werden zwei Mädchen in Krailling brutal ermordet. Bald darauf wird der Onkel verhaftet - er soll aus Habgier die verstörende Tat begangen haben. Nun hat das Landgericht München die Höchststrafe gegen Thomas S. verhängt.

Anna Fischhaber

Polizisten sprechen vom grausamsten Mord der vergangenen 30 Jahre in München. Aus Habgier soll der Postbote mit Hantel, Messer und Seil auf seine Nichten losgegangen sein. Gesehen hat den Täter niemand, doch zahlreiche Spuren sprechen gegen den Angeklagten.

Nun geht der Kraillinger Doppelmord-Prozess in die entscheidende Phase, noch Ende März soll das Urteil fallen. Süddeutsche.de erklärt: Welche Strategie verfolgen die Anwälte, was könnte dem Angeklagten zum Verhängnis werden und mit welchem Strafmaß muss er rechnen?

Die Anklage lautet auf Doppelmord aus Habgier und Heimtücke. Wegen 40.000 Euro, die Thomas S. aus dem Verkauf einer Wohnung seiner Schwägerin erlösen wollte - und gegen die sich die Mutter der Mädchen sperrte - soll er die zwei Mädchen getötet haben. Die Tat ist äußerst brutal - offenbar kämpften die Kinder verzweifelt um ihr Leben. Sharon bekommt laut Staatsanwaltschaft mit, dass der Onkel die kleine Chiara würgt und will aus der Wohnung fliehen. Sie schafft es bis in die Wohnküche, dort stellt sich ihr der Mann in den Weg.

Thomas S. im Münchner Landgericht. Ihm wird vorgeworfen, seine beiden Nichten Sharon und Chiara ermordet zu haben. Noch Ende März soll das Urteil fallen. (Foto: dpa)

Der Anklage zufolge wollte Thomas S. auch Anette S. umbringen, um zu erben - die Ermittler stoßen am Tatort auf eine Badewanne, halbvoll mit Wasser, und einen Mixer daneben. Nur weil die Mutter an diesem 24. März, vor genau einem Jahr, so spät nach Hause kommt, sei sie seinem teuflischen Plan entgangen.

Bevor er den Tatort verlässt, räumt der Täter penibel auf, drapiert etwa das abgewaschene Tatmesser neben dem Waschbecken. Anette S. verbringt den Abend in einer nahegelegenen Kneipe, findet erst am frühen Morgen die blutüberströmten Leichen ihrer beiden Töchter. Der Psychiater spricht von einer Art Ritualmord. Die Mutter habe den Eindruck gehabt, der Mörder wollte den Tatort für sie "anrichten", "ihr eine reinwürgen".

Selbstbewusst lässt der Angeklagte das Blitzlichtgewitter im Gerichtssaal über sich ergehen - fast so als ob ihm sein Auftritt gefallen würde. Gegenüber einer Psychologin hat er im Gefängnis seinen Prozess von der medialen Bedeutung mit dem von Wettermoderator Jörg Kachelmann verglichen. Am ersten Verhandlungstag lässt der Angeklagte durch seinen Verteidiger ausrichten, er wolle sich zunächst nicht zu den Vorwürfen äußern, später vielleicht. Seitdem schweigt er - auffällig ist sein Verhalten dennoch.

Der Mann lümmelt auf der Anklagebank, fast hämisch wirkt er manchmal. Die Tat, die selbst erfahrene Polizisten zu emotionalen Ausbrüchen im Zeugenstand treibt, scheint ihn nicht zu berühren. Als die Spurensicherung detaillierte Fotos von den zahlreichen Blutspuren am Tatort zeigt, wendet der Angeklagte den Blick nicht ab. Selbst dann nicht, als die Prozessbesucher längst zu Boden schauen müssen.

Gesehen hat den Täter niemand in der Mordnacht, doch viel spricht gegen Thomas S.: Zahlreiche Finger- oder Handabdrücke weisen darauf hin, dass der Angeklagte in der Wohnung der getöteten Mädchen war. In der Küche wird Blut von ihm gefunden - die wohl wichtigste Spur Nummer 12. Bei seiner Vernehmung sagt der 51-Jährige, die Spur stamme von einem Nasenbluten bei einem seiner Besuche. Allerdings war er laut Aussage der Mutter seit Jahren nicht mehr in der Wohnung. Zudem passt der Verlauf der Blutspur nicht zu einem Nasenbluten, erklärt ein Gerichtsmediziner.

Am Tag seiner Festnahme hat Thomas S. mehrere Verletzungen, etwa an der Nase. Eine Medizinerin erklärt, diese könnten von einem Kampf mit den Kindern stammen. Gesehen hat sie diese Verletzung selbst aber nicht. Das Alibi, das Ursula S. ihrem Mann zunächst gibt, widerruft sie schnell wieder. Zudem wird im Auto von Thomas S. eine Quittung eines Peißenberger Baumarktes für ein Tau gefunden - ein Tau, wie es die tote Chiara um den Hals geschlungen hat.

Es ist kein sympathisches Bild, das die Zeugen von dem Angeklagten zeichnen. Nachbarn und Unternehmer, die der in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Familie helfen wollen, nennen den Mann unverschämt und unangenehm. Besonders schwierig scheint das Verhältnis der Familie zu Thomas S. gewesen zu sein. Bei Streits geht es immer wieder um das beträchtliche Erbe - fast vier Millionen Euro an Immobilien und Aktien. Der Angeklagte gilt in der Familie nur als der "Schmarotzer".

Auf der Zuschauerbank nimmt an vielen Tagen Doris S. Platz, die Oma der toten Mädchen. Sie beschreibt ihren Schwiegersohn als "niederträchtig" und "hämisch". Selbst seine eigene Frau und die vier gemeinsamen Kinder habe er schon mit dem Tod bedroht. "Er hat sich aufgeführt wie ein Wahnsinniger", sagt sie. Auch die Mutter der getöteten Mädchen, die in dem Prozess als Nebenklägerin auftritt, muss sich im Zeugenstand erinnern. Es ist das einzige Mal, dass sie im Gerichtssaal erscheint. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit erzählt sie tapfer, wie sie ihre beiden Mädchen in der Mordnacht fand. Wie schwer ihr die Erinnerung fällt, macht ein Psychologe deutlich: Er spricht von einem "Trauma gigantischen Ausmaßes".

Man würde gerne wissen, was in dem Angeklagten vorgeht, der selbst Vater von sechs Kindern ist. Der Psychiater hält den Mann für "gefühlskalt" und "egozentrisch", zudem sei er sprunghaft, aufbrausend, draufgängerisch. Einen Anhaltspunkt für eine seelische Störung oder eine psychische Erkrankung hat er nicht gefunden. Er hält Thomas S. für voll schuldfähig.

Fünf Stunden lang hat sich der Psychiater mit dem Mann im Gefängnis unterhalten, hat sein seltsames Verhalten den gesamten Prozess über beobachtet. Als er von der Lebensgeschichte des mutmaßlichen Kindermörders erzählt, fällt vor allem die Diskrepanz zwischen dessen Fähigkeiten und dem, was er daraus gemacht hat, auf: Trotz relativ hohem IQ ist Thomas S. kein guter Schüler. Obwohl er einige Semester studiert hat, arbeitet er zuletzt nur noch als Postbote.

Die Staatsanwaltschaft scheint überzeugt zu sein, den richtigen Täter gefunden zu haben - auch wenn niemand Thomas S. gesehen hat. Die Anklage beleuchtet deshalb die Indizien gründlich. Mehrere Tage lang zeigen Beamte detaillierte Fotos vom Tatort, jede Blutspur wird in diesem Prozess diskutiert.

Weil der Mann in der Verhandlung schweigt, versucht das Gericht zudem sein Verhalten in den Verhören nach seiner Verhaftung zu analysieren. Ein Beamter erinnert sich etwa an ein merkwürdiges Kopfzucken immer wenn es um den Tatort gegangen sei. In einer Kaffeepause habe er dem Angeklagten vorgehalten, dass viele Spuren auf ihn als Täter hindeuteten. Thomas S. habe mit einer Gegenfrage reagiert. "Meinen Sie Blutspuren im Mund?" Solche Spuren waren vorher nicht thematisiert worden.

Auch drei Mithäftlinge sind als Belastungszeugen geladen. Einer berichtet, der 51-Jährige habe ihm erzählt, er sei ohne Waffe zur Wohnung seiner Schwägerin gefahren, und deswegen könne er maximal wegen Totschlags verurteilt werden. Vielleicht müsse er halt doch ein Geständnis ablegen. Doch danach sieht es bislang nicht aus.

Die Verteidigung hat es nicht leicht, viel spricht gegen den Angeklagten. Und doch wurde in diesem Prozess nicht alles geklärt. Vor allem nicht, welche Rolle Ursula S. spielt. Die Staatsanwaltschaft hat nie gegen sie ermittelt, es gebe keine Anhaltspunkte. Zeugen berichten allerdings, wie eng das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und seiner Frau gewesen sei. Und doch erzählt Ursula S. nach der Tat einer Zeitschrift, sie sei sich sicher, dass ihr Mann schuldig ist. Für diese Interviews soll sie laut Zeugenaussagen viel Geld bekommen haben.

Vor Gericht würdigt Ursula S. den Angeklagten keines Blickes. Eine Aussage will sie nicht machen, doch kaum hat sie den Verhandlungssaal verlassen, redet sie - wie schon so oft - mit den Journalisten. Am Montag entscheidet das Gericht über den Antrag der Verteidigung, sie nochmals als Zeugin zu laden. Selbst wenn das Gericht zustimmt, glaubt aber kaum jemand mehr daran, dass die Frau noch eine Aussage macht.

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Thomas S. am Dienstag vom Schwurgericht München wegen Mordes verurteilt. Dann droht ihm eine lebenslange Strafe. Die Staatsanwaltschaft könnte zudem auf eine besondere Schwere der Schuld plädieren. Das bedeutet, der Postbote kann nicht nach 15 Jahren darauf hoffen, dass der Rest seiner Strafe auf Bewährung ausgesetzt wird.

Aber hat Thomas S. die Kinder wirklich aus Habgier umgebracht? Die Tat war so brutal, dass man das am Ende dieses Prozesses zumindest bezweifeln muss. Zudem bleibt die Frage, ob er und seine Familie wirklich geerbt hätten, wenn auch Anette S. gestorben wäre. Als der Testamentsverwalter als Zeuge auftritt, löchert die Verteidigung ihn so lange, bis er schließlich zugeben muss, dass das Geld am Ende auch in die Familiengesellschaft, in der die Erben organisiert sind, zurück hätte fließen können. Eine Aussage, die die Verteidigung in ihrem Plädoyer für sich nutzen könnte. Am morgigen Dienstag soll voraussichtlich das Urteil im Doppelmord-Prozess von Krailling fallen.

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