Pflegeheime:Das Recht, auch Unsinniges zu tun

Vor Gericht geht es um den Alltag in den Pflegeheimen - und ums Prinzip: Wie mündig ist ein dementer Mensch, was darf er noch entscheiden?

Ekkehard Müller-Jentsch

Wie lange dürfen alte Menschen im Pflegeheim selbst über sich bestimmen? Und wann muss das Personal notfalls auch gegen ihren Willen handeln?

Pflegeheime: Die alte Dame hatte nicht gewollt, dass man ihr Bettgitter abschließt. In der Nacht stürzte sie aus dem Bett und verletzte sich schwer. Das Gericht muss nun entscheiden, ob das Pflegeheim Mitschuld trägt.

Die alte Dame hatte nicht gewollt, dass man ihr Bettgitter abschließt. In der Nacht stürzte sie aus dem Bett und verletzte sich schwer. Das Gericht muss nun entscheiden, ob das Pflegeheim Mitschuld trägt.

(Foto: Foto: dpa)

Ein Zivilprozess zwischen der AOK Bayern und dem Münchenstift, bei dem es nur vordergründig um 12.500 Euro Schadenersatz geht, ist zugleich auch ein Streit um die Grundsatzfrage, ob die Heime im Zweifelsfall ihre Bewohner ruhigstellen müssen, um Haftungsansprüchen aus dem Weg zu gehen.

Es geht um eine damals knapp 70-jährige Frau. In einer Märznacht 2007 war sie aus dem Bett gefallen und hatte dabei einen Oberschenkelhalsbruch erlitten. Für ihre Krankenkasse, die AOK, hatte das teure Folgen: Die Seniorin musste im Krankenhaus behandelt werden, bekam später eine spezielle Matratze und musste außerdem psychologisch betreut werden.

Mittlerweile ist die Betroffene gestorben. Die Kasse verlangt jetzt von der städtischen Pflegeeinrichtung Schadenersatz. Sie wirft dem Heim vor, das Bett der gehbehinderten und unter Demenz leidenden Frau auf einer Seite nicht mit einem Gitter gesichert zu haben. Das Münchenstift weist diesen Vorwurf zurück: Die Patientin habe das in eigener Verantwortung abgelehnt. Das Personal hätte solch eine ablehnende Äußerung ignorieren müssen, meint dagegen die AOK. Denn mit einem Gitter vor dem Bett wäre der Unfall nicht passiert.

Münchenstift erklärte in dem Verfahren, dass die Patientin wegen ihrer Demenz zwar seit 2005 Pflegestufe1 gehabt habe, aber dennoch geistig rege gewesen sei. Sie las sehr gerne und regelmäßig, auch die Tageszeitung, und ohne Unterhaltung langweilte sie sich erkennbar. Die Bewohnerin hatte im Prinzip auch nichts dagegen, bei Bedarf nachts mit einem Bettgitter gesichert zu werden. Allerdings wollte sie regelmäßig vorher gefragt werden. So die Schilderung der Pflegeheim-Verantwortlichen. Ihr Einverständnis zu dieser Handhabung sei regelmäßig alle drei Monate per Unterschrift erneuert worden.

Das Gericht versuchte nun zu erforschen, was an jenem Abend tatsächlich geschah. Zwei als Zeuginnen bestellte Altenpflegerinnen konnten sich in der Verhandlung am Freitag aber partout nicht mehr erinnern. Klar wurde nur, dass eine der beiden, damals noch Auszubildende, die Frau am Abend ins Bett gebracht hatte. Im sogenannten Maßnahmenkatalog hatte diese jungen Pflegerin seinerzeit aber nicht abgezeichnet, dass sie die Seniorin pflichtgemäß wegen des Gitters befragt habe. Kontrolliert worden sei sie damals nicht, ihre Fachaufsicht habe zu diesem Zeitpunkt auf einer anderen Station gearbeitet.

Zweifelhafter Aktenvermerk

Eine weitere Pflegerin konnte sich nur noch daran erinnern, dass die Frau selbständig mit ihren Rollstuhl fahren und dass man sich mit ihr, etwa in der Kaffeeküche, sinnvoll unterhalten konnte.

Dass sie etwa ein Jahr nach dem Unfall der Bewohnerin einen Vermerk geschrieben habe, dass die Frau stets gefragt worden sei, ob das Gitter oben oder unten sein solle, brachte sie allerdings etwas in Verlegenheit: Das habe sie in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Stationsleiterin auf Wunsch der Heimleitung verfasst und dazu Kolleginnen befragt. Dieses Papier wurde nun dem Gericht vorgelegt. Die Anwältin der AOK gab sofort ihre Zweifel an der Richtigkeit dieses Aktenvermerks zu Protokoll.

In einer früheren Verhandlung hatte eine Richterin festgestellt, dass es hier um die grundsätzliche Frage gehe, inwieweit ein Heim in solchen Fällen eingreifen dürfe oder gar müsse. "Solange ein Mensch weiß, was er tut, hat er grundsätzlich sogar das Recht, unsinnige Dinge zu tun", meinte die Richterin.

In der Verhandlung jetzt meinte der Vorsitzende, dass ein Heim wohl nicht verpflichtet sei, das Gitter hochzuziehen, solange keine Gefahren erkennbar seien. Das Urteil soll voraussichtlich am 27. Februar verkündet werden (20O8436/08). Die Richterin im ersten Verfahren hatte auch von der grundsätzlichen Bedeutung dieses Konflikts zwischen Sicherheit und Freiheit gesprochen: Wenn Gerichte verlangten, dass Patienten im Zweifelsfall lieber ruhigzustellen seien, würden schon bald aus Haftungsgründen in allen Heimen die Menschen in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt: "Und das wäre gruselig und beängstigend."

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