Pflege:Bewährt? Na und?

Pflege: Immer ein offenes Ohr: Nicht immer sind es medizinische Fragen, mit denen Angehörige und Pflegekräfte zu Anna Weinberger kommen.

Immer ein offenes Ohr: Nicht immer sind es medizinische Fragen, mit denen Angehörige und Pflegekräfte zu Anna Weinberger kommen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Arbeiterwohlfahrt kämpft für ihr Heimarzt-Modell: Für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter hat es erwiesene Vorteile - zu finanzieren ist es aber schwierig

Von Sven Loerzer

Immer häufiger fahren Krankenwagen die Altenpflegeheime an, immer öfter muss der Bestattungsdienst gerufen werden: Bundesweiten Erhebungen zufolge versterben 20 Prozent aller neu aufgenommenen Bewohner bereits in den ersten vier Wochen danach, im Schnitt liegt die Verweildauer in vielen Heimen nicht einmal mehr bei einem Jahr, sondern erheblich darunter. Das erhöht die Anforderungen an die Pflege. "Die Heime entwickeln sich immer mehr zu Brückenstationen und Krankenheimen", sagt Hans Kopp, Altenpflegereferent bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Denn die Menschen bleiben länger zuhause wohnen, lassen sich ambulant versorgen, solange es noch irgendwie geht.

Um kritischen Situationen bei Bewohnern, die kränker und älter sind, besser gerecht zu werden, wurde vor 15 Jahren nach Berliner Vorbild im Münchner "Haus der Arbeiterwohlfahrt" an der Gravelottestraße ein Heimarzt angestellt. Doch nun hat dessen Nachfolgerin keine Verlängerung mehr zur Abrechnung mit den Krankenkassen über die Kassenärztliche Vereinigung erhalten. Der "Zulassungsausschuss Ärzte München Stadt und Land" beschied, dass kein Bedarf bestehe, da die Versorgung durch niedergelassene Ärzte ausreiche: "Es sind zwei Hausärzte vor Ort."

Eine neue Ermächtigung könne nur ausgesprochen werden, wenn eine Versorgungslücke beseitigt werde. In dem Pflegeheim bestehe aber "kein derartiger Bedarf", so der Ausschuss. Die Awo sieht das anders: Die Hausärzte kämen drei Mal pro Woche, aber sie könnten nicht die werktägliche Präsenz bieten, klagt Kopp. Bis ein Bereitschaftsarzt in kritischen Situationen komme, könnten drei Stunden vergehen: "Unsere Heimärztin kompensiert qualitative Versorgungslücken und steigert die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bewohner."

Für Renate Seibt, Leiterin des "Hauses der Arbeiterwohlfahrt" in Haidhausen an der Gravelottestraße, liegen die Vorteile auf der Hand, nicht nur für die Bewohner, sondern auch für die Pflegekräfte. Gerade wenn Bewohner aus dem Krankenhaus kämen, sei mitunter die Medikation ohne Nachfrage nicht nachvollziehbar. Nicht selten fehlten Arztbriefe, Medikamente würden nicht mitgegeben. Dieser Austausch laufe unter Mediziner-Kollegen leichter. Bei psychiatrischen Erkrankungen trete die Heimärztin zudem als Anwalt der Bewohner auf. Die Heimärztin könne sich Zeit nehmen, nicht nur für Bewohner, sondern auch für Angehörige, das sei gerade in Palliativsituationen ungeheuer wichtig.

"Im Schnitt wechselt alle zehn Monate die komplette Bewohnerschaft", dadurch steige die Belastung für das Pflegepersonal, erklärt Kopp. Die Bewohner litten oft unter mehreren Beschwerden, da sei die tägliche Beobachtung ihres Befindens sehr sinnvoll, auch zur Unterstützung des Pflegepersonals. Pflegeheime lehnten häufig die Aufnahme alter Menschen mit komplexen Krankheitsbildern ab, wie etwa von Patienten, die einen künstlich angelegten Zugang zur Luftröhre erhalten haben. Denn gerade in solchen Fällen seien die fachlichen Anforderungen besonders hoch.

Nicht immer sind es medizinische Fragen, mit denen Angehörige und Pflegekräfte zu Anna Weinberger kommen. Sie wissen, dass die Ärztin, die bereits in einem Hospiz tätig war, bevor sie im Awo-Pflegeheim angestellt wurde, stets ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte hat. Selbstverständlich steht sie auch Pflegekräften zur Seite und kann dabei auf eigene Erfahrungen bauen: Anna Weinberger hat sich ihr Medizinstudium durch die Arbeit als Pflegehilfskraft finanziert. Bevor sie vor eineinhalb Jahren die Halbtagsstelle in dem Heim mit 120 Plätzen übernahm, sah es so aus, als stünde das 2001 bei der Awo eingeführte Modell "Arzt im Heim" vor dem Aus. Weinbergers Vorgänger war in den Ruhestand gegangen. Die Arbeiterwohlfahrt hatte die Stelle ganz am Anfang mit Unterstützung des "Adventskalenders für gute Werke der Süddeutschen Zeitung" finanziert, bis sich schließlich die AOK bereit erklärte, einen festen Zuschuss zu geben. "Wir sind sehr froh, dass die AOK mehr als zehn Jahre lang einen freiwilligen Finanzierungsbeitrag geleistet hat", sagt Christoph Frey, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt. Auf dieser Basis sei das nur leider nicht mehr möglich, dafür gebe es rechtliche Gründe.

Rund 40 000 Euro kostet die Halbtagsstelle, an der Kopp dennoch festhalten will: "Wir sind von den Vorteilen überzeugt." Die Awo habe schließlich immer wieder aufzeigen können, dass die Krankenhauseinweisungen sowie die Anforderung von Bereitschafts- und Notärzten im Haus der Awo deutlich geringer ausfallen als in anderen Heimen. Trotzdem muss die Awo nun versuchen, die Arztstelle über das Heimentgelt für die Sicherung der Pflegequalität zu finanzieren. "Leider zahlt der Bewohner nun selbst für eine qualitativ gute ärztliche Betreuung", bedauert Kopp.

Auch die SPD-Stadtratsfraktion hatte sich dafür stark gemacht, das Modellprojekt fortzuführen. Doch das Sozialreferat erklärte, eine freiwillige Förderung des Awo-Hauses würde in Bezug auf die anderen stationären Einrichtungen eine Ungleichbehandlung darstellen und scheide damit aus. Es bestehe derzeit keine Möglichkeit, "das sicher gute Projekt" weiter zu finanzieren.

Mit dieser lapidaren Absage wollen sich die SPD-Stadträte aber nicht abfinden. Sie haben jetzt beantragt, den freiwilligen Zuschuss für die heiminterne Tagesbetreuung so zu flexibilisieren, dass daraus künftig auch Palliativ-Fachkräfte oder Heimärzte zu finanzieren sind. Die Betreuungssituation habe sich gebessert, seitdem ein gesetzlicher Anspruch auf Betreuung und Aktivierung bestehe, sagt SPD-Stadträtin Anne Hübner. Deshalb sollten Heime in Zukunft die Wahlmöglichkeit erhalten, den Zuschuss je nach besonderem Bedarf für eine zusätzliche Palliativfachkraft oder aber für einen Heimarzt zu verwenden. "Niemand soll allein oder mit großen Schmerzen sterben."

Aber hochbetagten, sterbenskranken Menschen soll auch möglichst die belastende Einweisung in eine Klinik erspart bleiben, fordert Hübner. Darüber kann ein Arzt, der die Krankengeschichte des Patienten und deren Entwicklung gut kennt, am besten entscheiden.

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