Pfand:"Mit den Pfandflaschen verdiene ich so 15 Euro am Tag"

Pfand: Die Profis unter den Flaschensammlern haben Holzstöcke oder Aluzangen, um Pfandflaschen auch aus den hintersten Winkeln der Glascontainer fischen zu können.

Die Profis unter den Flaschensammlern haben Holzstöcke oder Aluzangen, um Pfandflaschen auch aus den hintersten Winkeln der Glascontainer fischen zu können.

(Foto: Catherina Hess)

München ist reich, die Wohnungen sind teuer - und dann sind da die Menschen, die nur durchkommen, weil sie Pfandflaschen sammeln.

Von Susanne Schneider

Ralf, 54, seit sechs Jahren Flaschensammler: "Ohne uns würde das ganze Pfandsystem nicht funktionieren, die Regeln sind zu kompliziert. Die Idee ist zwar gut, aber die Ausführung eine Katastrophe. Wenn jeder Münchner täglich eine Pfandflasche für 25 Cent wegschmeißt, aus Versehen oder absichtlich, macht das bei 1,5 Millionen Einwohnern pro Tag 375 000 Euro. Davon profitieren Leute wie ich".

195 Personen, die in sieben, meist vierstöckigen Altbauten wohnen, haben die Adresse Pündterplatz, 80803 München; ein kleiner, rechteckiger Platz zwischen Herzog- und Clemensstraße in München-Schwabing, an dessen Nordende sechs gelbliche Abfallcontainer, "Wertstoffinseln" genannt, stehen, sechs von etwa tausend in München: drei für Alu, Plastik und Kunststoffe, je einer für grüne, braune und weiße Glasflaschen, dazu zwei orange-schwarze Altkleidercontainer der Stadt München: "Ihre Kleidung - unsere Verantwortung". Zwischen sechs und zehn Männer kommen täglich, stochern mit Alu- oder Holzstangen in den Containern, um Pfandflaschen oder Dosen heraus zu klauben, die sie im Supermarkt gegen Geld eintauschen. Manche durchsuchen zwei- oder drei Mal pro Tag denselben Container. Nicht nur die Bewohner des Pündterplatzes werfen Flaschen und Dosen in die Container, auch Christian Ude, 21 Jahre Oberbürgermeister von München, der 200 Meter entfernt am Kaiserplatz wohnt, entsorgt sein Altglas hier.

Ralf, 54, Flaschensammler: "An meinem Holzstock hängt oben ein Band, darum komme ich bei jedem Container in die hintersten Winkel. Die Alu-Zangen mit Greifer, die viele haben, sind nur gut, wenn die Flaschen noch voll sind, aber schon die dünnen von Lidl gehen kaputt, wenn man zu fest dran stößt. Ich bin sechs Tage die Woche mit meinem Radl unterwegs, im Sommer zwischen zwölf und 14 Stunden, im Winter weniger. Weil ich in Aubing wohne, fange ich da an, dann fahre ich meine Stammroute ab, ich radle zu den Containern in Pasing, Nymphenburg, Gern, weiter nach Schwabing, natürlich auch zum Pündterplatz, dann Studentenstadt, Kieferngarten, Oberföhring, Olympiagelände, Moosach. Am Dantebad mache ich eine Stunde Pause an einem Kiosk, trinke mein Bier, das ist da billig. Dann geht es weiter nach Untermenzing und Allach, im Sommer fahre ich am Wochenende und am Montag die Seen ab, Langwieder See, Lerchenauer See, Feldmochinger See und so weiter. Da schmeißen die Leute viele Flaschen weg. Alles in allem radle ich 50 bis 60 Kilometer und verdiene mit den Pfandflaschen so 15 Euro am Tag. Vor ein paar Jahren spielten Bionade-Flaschen eine große Rolle, jetzt gar nicht mehr. Ich habe auch einige Stammkunden, die sammeln Pfandflaschen, bis der Sack voll ist und rufen mich an. Das macht dann leicht fünf Euro auf einmal, das ist so das Sahnehäubchen".

Christian Ude, ehemaliger Oberbürgermeister: "Treffen wir uns in der Teestube am Pündterplatz, ich unterstütze den Wirt gern, der muss nicht den Höchstumsatz abliefern, um die Miete bezahlen zu können. Das geht bloß, weil der Besitzer nicht den letzten Pfennig aus seinen Mietern herausquetscht. Wenn viele Hausbesitzer so handeln würden, müssten die Münchner Mieten nicht ins Astronomische steigen. Um die Ecke am Kaiserplatz gibt es auch eine Hausbesitzerin, die nicht das Maximum für die Wohnungen in ihrem Haus verlangt. Diese Frau habe ich ja auch geheiratet. Und weil wir ein feierfreudiger Haushalt sind, können Sie mich immer wieder bei den Flaschencontainern antreffen."

Peter, 63, seit 20 Jahren Flaschensammler: "Man weiß gleich, wenn der Ralf vor einem am Container war, denn der hat mit seinem Holzstock immer alles durchgewühlt. Früher hat er mich schwach angeredet, jetzt nicht mehr. Ich schätze, es gibt so zehn bis fünfzehn etablierte Flaschensammler in Schwabing. Unter den Kollegen grüßt man sich nicht, da gönnt keiner dem anderen was. Vor 20 Jahren war das noch anders, da war die Konkurrenz nicht so groß. Wenn da die Leute Pfandflaschen neben die Container gestellt haben, standen die ewig da. Heute sind die sofort weg. Im Sommer schau ich erst gar nicht in die Container mit dem Blech rein, weil es da furchtbar stinkt von den leeren Hundefutterdosen. Am Samstag zwischen zehn und 14 Uhr ist die beste Zeit für mich. Dann bringen die Ehemänner ihre Flaschen zum Container. Nach 14 Uhr ist es wie abgerissen. Montag ist der schlechteste Tag. Sechs-, siebenmal am Tag gebe ich im Supermarkt Flaschen zurück, an einem guten Tag macht das 20 Euro. Ich fahre nur die Container in Schwabing ab, oft dreimal täglich. Natürlich weiß man mit der Zeit, an welchem Tag und um wie viel Uhr die Container geleert werden. Da versucht man dann früher da zu sein. Gegen elf esse ich in der Mensa der Uni, die liegt auf meinem Weg. Um 16.30 Uhr höre ich auf. Ich habe mir angewöhnt, das als ganz normale Arbeit zu betrachten. Am Pündterplatz bin ich zwischen neun und zehn Uhr, dann wieder zwischen 12 Uhr und 12.30 Uhr. Ich hab die Gegend gern. Die Leute scheinen sich hier wohl zu fühlen, sie sind freundlich zu mir".

Ein paar Zahlen, das Statistische Amt der Stadt München hat gezählt: Die 195 Personen, die am Pündterplatz wohnen, leben mit 22 Kindern in 112 Privathaushalten. 69 Fahrzeuge ohne Anhänger sind dort gemeldet, davon 60 Pkw. Die Mitte des Platzes nimmt eine große Grünanlage mit einem viel besuchten Spielplatz ein, sie ist etwa 1850 Quadratmeter groß. Jetzt zum ewigen München-Thema, die hohen Mieten: In Schwabing-West sind sie besonders hoch, aber es geht noch höher, sagt die Stadtteilstudie von 2016: Im Durchschnitt wurde 2015 in München eine Wiedervermietungsmiete von 15,57 Euro pro Quadratmeter erzielt. Die höchsten Wiedervermietungsmieten weisen dabei Altstadt und Lehel auf mit 19,64 Euro/qm² auf. Es folgen Schwabing, Schwabing-West, Maxvorstadt, Au-Haidhausen und die Isarvorstadt- Ludwigsvorstadt mit 17,31 Euro bis 17,94 Euro/qm². Die günstigsten Mieten sind weiterhin in Berg am Laim, 11,94 Euro/qm², und Trudering, 12,81 Euro/qm², zu finden.

Christian Ude, ehemaliger Oberbürgermeister: "Hohe Mieten sind ein Wohlstandsphänomen und München schreibt seit 1945 an seiner Erfolgsgeschichte mit entsprechend vielen Spitzenverdienern in zukunftsträchtigen Branchen. Weil die Einkünfte hier höher sind, sind auch die Mieten häufig ökonomisch drin. Keiner will in Kommunen leben, in denen Wohnraum leer steht, aber selbst Einheimische keine Arbeit finden. Darum gehen die Menschen nach München: Erst kamen sie aus dem bayerischen Umland, dann aus der Oberpfalz, Franken und Schwaben, inzwischen gibt es einen ungeheuren Strom aus Osteuropa. Das Wachstum der Stadt erfordert Wachstum der Zuwanderung. Und Zustrom erhöht natürlich Wohnungsmangel. Ich ärgere mich über die gut verdienenden Sozialschmarotzer, die schwarz eine polnische Putzfrau beschäftigen, aber keine Ahnung haben, in welchem Elend die lebt".

Peter, Flaschensammler: "Ich wohne in Schwabing in einem Mietshaus, in dem die Zimmer einzeln vermietet werden, 189 Euro im Monat zahle ich für mein Mansardenzimmer im 4. Stock, Toilette auf dem Gang. Im 1. Stock gibt es Duschen, die kosten extra. Mit meinem Nachbarn, einem Portugiesen, spiele ich Backgammon, sonst aber sind wir eine Zweckgemeinschaft. Ich war schon immer am liebsten allein. Ich habe kein Telefon. Ich wüsste gar nicht, wen ich anrufen sollte. In Neufinsing bei Erding habe ich ab 1968 Bäcker gelernt, 1976 bin ich nach München gekommen und habe Bäckereien mit dem Lkw beliefert. Dann sind die Depressionen ausgebrochen, die waren zehn, 15 Jahre akut, ich musste meine Arbeit aufgeben, weil ich es immer nur bis zur Tür schaffte bis die Panik kam. Das ist wie ein Karussell, man ist immer in Bewegung, aber man kommt nicht vorwärts. Inzwischen habe ich mein Schicksal angenommen und bin froh, dass ich jeden Morgen aufstehen kann. Einen anderen Job könnte ich gar nicht machen. Ich kriege Grundsicherung, bald auch Rente. Vom Flaschen sammeln allein kann man nicht leben, aber es gibt meinem Tag Struktur - das brauche ich. Ich mache das jetzt seit 20 Jahren, bin mit einem Rad unterwegs, das mir mein Schwager geschenkt hat. Das Rad ist mein Krückstock, U-Bahn fahren kann ich wegen der Leute nicht. Ich fahre immer denselben Weg. Ich brauche den Trott, der Trott gibt mir Halt. Stabilität kriegt man nicht durch Veränderung".

Dissertation: Nicht die Armut vereint die Flaschensammler

Sebastian J. Moser schreibt in seiner 2014 erschienenen Dissertation "Pfandsammler. Erkunden einer urbanen Sozialfigur", dass nicht die Armut die ansonsten sehr heterogene Gruppe der Flaschensammler vereine, sondern die Sehnsucht nach einer festen Tagesstruktur und einer Aufgabe, die an Arbeit erinnere. Das Pfandsammeln biete Menschen, für die die Ausfüllung von freier Zeit ein zentrales Problem darstelle, eine Lösung an. Angeblich würden 40 Prozent aller Münchner am liebsten in Schwabing wohnen. Über Schwabing-West schreibt der Online-Reiseführer "Die Stadtbezirke von München": "Teures und modernes Viertel mit viel Nachtleben und ausgesprochen hoher Lebensqualität. Schwabing ist sehr international und die vielleicht weltoffenste Gegend in Bayern."

Christian Ude, ehemaliger Oberbürgermeister: "Man muss fast eine Kennerschaft haben, dann sieht man die Armut schon. Man erkennt sie in Schwabing nicht an der Kleidung, eher an Mangelerscheinungen durch schlechte Ernährung. Diese Menschen sind in einer finanziell dermaßen knappen Situation, die sich ein Durchschnittsverdiener gar nicht vorstellen kann. Im Sozialstaat ist zwar das Überleben gesichert, aber zu Bedingungen, die keinen Spielraum lassen. Viele Rentner zählen heute schon dazu, künftig werden es noch viel mehr sein, Alleinerziehende, die einen erhöhten Wohnraumbedarf haben, aber keinen Job kriegen und sich die Mieten nicht leisten können. Trotzdem kann man bei ihnen nicht von Verelendung sprechen, das trifft mehr auf die Dauerarbeitslosen zu. Natürlich gibt es obdachlose Kinder in München, gewalttätige Väter, oft mit Migrationshintergrund, man muss es so sagen, die wohnen schlecht, billig, eng und laut. Es geht so grade noch".

Peter, Flaschensammler: Mein Vater war Melker, meine Mutter Hilfsarbeiterin. Wir waren drei Kinder, aber ich glaube, wir waren ihnen egal. Mit elf habe ich angefangen, im Wald zu schlafen. Wir hatten ein Radio daheim, als Kinder durften wir es aber nie anschalten, wir hätten ja so was Gottloses wie Musik hören können. Bücher hatten wir keine. Heute lese ich umso mehr. Darum weiß ich, dass Hemingway oder Balzac auch Depressionen hatten wie ich.

Ralf, Flaschensammler: "Bis vor vier Jahren hab ich am Bau gearbeitet, Gerüstbau, Trockenbau, ich war Dachdecker, hab Zelte aufgebaut, alles. Ich war fast immer selbständig und konnte mir von dem Ersparten eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Aubing kaufen. Dann hab ich einen Bandscheibenvorfall gekriegt. Da war es aus mit dem Bau. Nichts hat gegen die Schmerzen im Rücken geholfen, erst seit ich jeden Tag mit dem Rad fahre, merke ich nichts mehr von meiner Bandscheibe. Ich krieg ja kein Geld vom Staat, sonst müsste ich meine Wohnung verkaufen, das will ich nicht. Also lebe ich vom Ersparten und von den Pfandflaschen. Je nach Wetter hab ich einen Pulli dabei oder eine Regenjacke. Ich bin ja noch robust. Ich fahre auch im Winter, wenn die anderen aus dem Fenster schauen. Im Sommer kann ich allein von den Flaschen leben, da wird mehr getrunken, gefeiert, gegrillt, im Winter muss ich ans Ersparte ran. Ich heize nicht viel, ich ziehe mir einen dicken Pulli an, aber Plusgrade will ich schon in der Wohnung haben. Ich hab keinen Fernseher, aber am Nordbad und in Moosach gibt es große Schränke, da kann man sich kostenlos Bücher rausholen. Ich lese abends gern Krimis. Und Reiseberichte. Seit ich mal auf Korsika war, träume ich davon, dort zu leben. Wenn es mit den Flaschen nicht mehr geht, verkauf ich meine Wohnung, kaufe mir einen Wohnwagen, dann geht's ab nach Korsika".

Mehrmals pro Woche werden die drei Container für Plastik und Aluminium am Pündterplatz geleert. "Die Flaschencontainer", sagt die Firma Remondis, "werden je nach Bedarf, mindestens aber einmal pro Woche, geleert. In einen Container passen 3500 Glasflaschen à 0,75 Liter, Würstchengläser nicht mitgezählt".

Christian Ude, Ex-Oberbürgermeister: "Es gibt in München die absurde Situation, dass Wohnungen, die eigentlich keiner will, weil sie am Mittleren Ring liegen und laut sind, mehr Miete kosten, als manche Altbauwohnung in Schwabing. Denn die Leute, die in diesen lauten Wohnungen wohnen, ziehen aus, sobald sie es sich irgendwie leisten können. Und je öfter die Bewohner wechseln, desto häufiger können die Mieten erhöht werden. Aber am Pündterplatz oder bei mir am Kaiserplatz, da zieht ja nie einer aus, wenn er nicht muss".

Ralf, Flaschensammler: "Bei Dosen von Red Bull gibt es manchmal Pfand, manchmal nicht, für Almdudler-Plastikflaschen gibt es mal 15 Cent, mal 25, mal gar nichts. Warum? Du kannst das Etikett lesen und lesen und kommst nicht drauf. Das gleiche gilt für Sondereditionen von Getränkefirmen. Ich schätze, dass tausend Leute in München Flaschen sammeln, oft sind zwar Rentner dabei, die aufhören, wenn sie fünf Euro beisammen haben, aber die sind eher die Ausnahme. Man muss sich nur mal vorstellen, dass am Wochenende im Sommer allein an der Isar, am Flaucher, die Leute Pfandflaschen für zigtausend Euro wegschmeißen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: