Paul-Heyse-Unterführung:Die Röhre des Grauens

Sie ist nach einem Dichter benannt - aber poetisch ist in der Paul-Heyse-Unterführung so rein gar nichts.

Von Thomas Anlauf

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Quelle: Stephan Rumpf

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Was in der Welt, dir nicht gefällt, mußt du dir gelassen gefallen lassen

Die Worte stammen aus der Feder eines Münchners, der einst als Dichterfürst gefeiert wurde. 1910 ernannte ihn die Stadt zum Ehrenbürger, im selben Jahr verlieh ihm Prinzregent Luitpold den persönlichen Adelstitel und die Schwedische Akademie ihm den Nobelpreis für Literatur. Damals gab es bereits das Bauwerk, das bis heute nach dem Schriftsteller und Dramatiker benannt ist und das der 1914 verstorbene Dichter vermutlich verächtlich als Schlund bezeichnet hätte: die Paul-Heyse-Unterführung.

Sprung ins Jahr 2001: Vier junge Künstler stehen fast neun Jahrzehnte nach Paul Heyses Tod inmitten der Röhre unter dem Gleisgewirr des Hauptbahnhofs, sie tragen Atemschutzmasken zu schwarzen Anzügen und deklamieren in den Verkehrslärm hinein Verse des Dichters. Auf einem Transparent der Gruppe, die sich "Sühne Münchens" nennt, steht "Leise! Paul Heyse". Die vier wollen mit der ungewöhnlichen Lesung an jenem 2. April 2001 an den fast vergessenen Schriftsteller erinnern und gegen den Lärm der Welt protestieren. Doch der Verkehr brüllt, Radfahrer rasen durch den 210 Meter langen Schlauch aus Stahl und Stein, Fußgänger hasten an den Künstlern vorbei, bloß raus aus der Röhre.

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Quelle: Stephan Rumpf

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Die Röhre: Seit 108 Jahren verbindet sie das südliche Bahnhofsviertel mit der Maxvorstadt. Die längst in die Jahre gekommene Brückenkonstruktion galt einst als Meisterleistung der Ingenieurskunst, die Eisenträger wurden von der königlich-bayerischen Hofschlosserei Moradelli gefertigt. Die Konstruktion trägt bis heute die zahllosen Züge, die auf 26 Gleisen über das Bauwerk rattern. Die Bahn zumindest hat festgestellt, dass die Paul-Heyse-Unterführung, die eigentlich eine Eisenbahnbrücke ist, "derzeit voll die Ansprüche für den abzuwickelnden Eisenbahnverkehr" erfüllt. "Um diesen Zustand möglichst lange zu erhalten, wurden erste Instandhaltungsarbeiten durchgeführt", teilte die DB Netz AG kürzlich dem Münchner Planungsreferat mit.

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Im Jahr 2013 hat demnach die mittlere Stützreihe der Unterführung einen neuen Korrosionsschutz erhalten, im Jahr darauf wurden irgendwelche Entwässerungskanäle in der Röhre gespült, und "derzeit laufen Planungen für Fugensanierungen und weitere Sanierungsarbeiten in den nächsten Jahren". Von einem Neubau der Unterführung nach mehr als einem Jahrhundert ist derzeit keine Rede, im Gegenteil. "Es ist sicher nicht schön, aber das Bauwerk ist stabil", sagt Bahnsprecher Bernd Honerkamp.

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Quelle: Stephan Rumpf

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Und für zwei Männer ist es eine Art Dach überm Kopf. Einer von ihnen steht am Freitagmorgen am Südende der Unterführung in der Sonne und rückt die drei Brillen zurecht, die er übereinander auf der Nase trägt. "Der Lärm? Nicht so schlimm", sagt er. Seit ein paar Monaten schläft er schon auf einer dünnen Matratze, die in einem Meter Höhe auf einem Sims liegt. Mit einem jüngeren Obdachlosen teilt er sich die Nische. Davor steht ein Körbchen mit einem weißen Plüschhund darin, Vorbeihastende werfen manchmal Kleingeld hinein. Der Mann mit den drei Brillen bedankt sich dann artig, er ist eine Art guter Zerberus des Schlunds.

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Quelle: Stephan Rumpf

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Hinter ihm beginnt die Düsternis. Fahl leuchtende Lichtröhren erhellen kaum die schmalen Geh- und Radwege. An einzelnen Stellen häuft sich der Taubenkot, über die gesamte Breite des dunklen Lochs hat sich streifenförmig eine Pfütze gebildet, irgendwas muss an der Decke undicht sein. Zwischen den großen Werbeplakaten, die mal ein Handynetz, mal Hochprozentiges anpreisen, waren die Wände einst mit kleinen blumenkohlfarbenen Kacheln bestückt. Seit sechs Jahren schaut aber an den meisten Stellen der völlig verdreckten Fliesen der blanke Putz hervor: Im März 2010 meißelten Bahnmitarbeiter großflächig die Kacheln von der Wand, nachdem es im Winter zu Frostschäden gekommen war. Seither ist nichts passiert.

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Quelle: Stephan Rumpf

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Auch das alte Leuchtröhrensystem in der Unterführung wurde seit 40 Jahren nicht erneuert. "Die Straßenbeleuchtung ist in verkehrssicherem Zustand", versichert Dagmar Rümenapf vom zuständigen Baureferat. Angesichts des hohen Alters der Funzeln werde aber "derzeit eine komplette Erneuerung geplant". Ansonsten: Alles in Ordnung in der Röhre, findet das Baureferat. Täglich würden die Fahrbahnen sowie die Geh- und Radwege gereinigt, zusätzlich gebe es "bei Bedarf auf Teilflächen einmal wöchentlich" eine Sonderreinigung. "Weiterer Reinigungsbedarf wird derzeit nicht gesehen, da das Abfallaufkommen dies nicht erfordert", so Referatssprecherin Rümenapf.

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Im Rathaus klingt das anders. "Für alle, die zu Fuß oder mit dem Radl unterwegs sind, ist der Tunnel eine Zumutung", beschwerte sich SPD-Stadtrat Hans Dieter Kaplan am 4. Mai vergangenen Jahres in einem Antrag, in dem er und seine Fraktion "eine rasche Sanierung der Paul-Heyse-Unterführung" forderten. "Gerade jetzt, wo der geplante Neubau des Hauptbahnhofs Gestalt annimmt, muss ein Fokus auch auf der Paul-Heyse-Unterführung liegen. Dass die Menschen in Zukunft gleich neben einem schicken, hellen und modernen Hauptbahnhof durch einen schmuddeligen Tunnel geschickt werden, ist für uns nicht vorstellbar", wetterte Kaplan.

Im Bild: Der Platz oberhalb der Unterführung

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So wird es aber wohl kommen. Weder die Bahn als Eigentümerin des Bauwerks, noch das Baureferat sehen besonderen Bedarf, in betriebsame Hektik zu verfallen. Und auch das Planungsreferat winkt ab: Selbst wenn wie derzeit geplant der künftige Bahnhofsvorplatz zur Fußgängerzone wird und dort damit eine Nord-Süd-Trasse für den Verkehr wegfällt, sei die Paul-Heyse-Unterführung als Ausweichroute immerhin groß genug, teilt Referatssprecher Thorsten Vogel mit. Ein Gutachten habe ergeben, dass die Verkehrsverlagerung vom Bahnhofsplatz dorthin "leistungstechnisch zu bewältigen" sei.

Das klingt eigentlich, als wäre die Röhre gar nicht so übel und die SPD ein wenig hysterisch. Doch vor einem Monat erhob auch die CSU eine zweiseitige Klage gegen den "Schandfleck", die "Sauerei" und das "jahrzehntelange Nichtstun" der Bahn als Eigentümerin, nachdem der Stadtrat neun Monate lang keine Antwort auf die Anfrage der SPD erhalten hatte. 18 Tage nach der CSU-Schelte gab es eine Antwort der Verwaltung - auf den SPD-Antrag. Auf acht Zeilen zitiert das Planungsreferat die Bahn, dann noch auf zwei Zeilen das Baureferat, dass dieses derzeit den Reinigungsturnus in der Röhre prüfe. SPD-Fraktionsvize Kaplan tobt: "Die Antwort der Bahn ist ein Witz! Die Mitteilung, dass irgendwann mal Fugensanierungen geplant sind in einer Unterführung, in der die Fliesen stellenweise schon großflächig von der Wand abgebröckelt sind, wäre fast lustig - wenn sie nicht so ärgerlich wäre."

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Quelle: Stephan Rumpf

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Dabei gibt es seit Jahren Vorschläge, wie "einer der hässlichsten Orte dieser Stadt", wie Kaplan ätzt, umgestaltet werden könnte. Bunte Fliesen oder farbiges Blech an den Wänden, mehr Licht und eine schallschluckende Decke forderte vor fünf Jahren der Münchner Architekt Michael Gaenßer in der Abendzeitung. FDP-Stadtrat Michael Mattar wünschte sich im gleichen Jahr eine künstlerische Lichtinstallation in der Röhre. Und 2013 schlug die CSU-Fraktion im Bezirksausschuss Maxvorstadt sogar vor, die Unterführung mit einer Wand zu teilen - die eine Seite für Radler und Fußgänger, die andere für Autos.

Doch die Ideen verschwinden in Schubladen. In die Röhre, die den Namen eines Dichters trägt, wuchert von oben langsam Gras und Gestrüpp. Die Fahrbahnstreifen sind verblasst, dunkle Adern durchziehen den geflickten Asphalt. "Die Welt ist das, was wir uns aus ihr machen", schrieb Paul Heyse. Wäre die Welt diese Unterführung, müsste man das Zitat mit einem Wort ergänzen: nichts.

© SZ.de/infu
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