Pathologe Andreas Nerlich:Der Tod ist sein Leben

Pathologe Andreas Nerlich: Tumor neben Zehnagel neben weiblicher Brust: Bis zu sechs Wochen werden Gewebeproben bei Andreas Nerlich in der Pathologie aufbewahrt.

Tumor neben Zehnagel neben weiblicher Brust: Bis zu sechs Wochen werden Gewebeproben bei Andreas Nerlich in der Pathologie aufbewahrt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Andreas Nerlich ist Pathologe - und erforscht in seiner Freizeit Mumien. Er hat den Ötzi untersucht, die alten Ägypter und die Adligen aus einer bayerischen Gruft. Wenn der Professor vor einem Rätsel steht, muss das Mumienschwein ran - ein ungewöhlicher Ratgeber.

Von Sarah Kanning

An freien Tagen widmet sich Andreas Nerlich dem Tod. Dann steigt er in eine Gruft hinunter, öffnet einen Sarg oder sägt auf seinem Sektionstisch ein winziges Stück aus einem Leichenschädel. Vorsichtig, damit er nichts kaputt macht. Andreas Nerlich ist Pathologe - und erforscht Mumien, häufig in seiner Freizeit. Die Geschichten der Toten wie ein Mosaik zusammenzusetzen, ihre Krankheiten und Leiden herauszuknobeln, ist seine größte Leidenschaft. "Es ist dieser andere Blick auf die Geschichte, das Querdenken", sagt Nerlich in Poloshirt und Jeans in seinem Büro im Klinikum Bogenhausen.

Er hat sie alle untersucht: den Gletschermann Ötzi, ("Er hat den Pfeilschuss und den Schlag auf den Rücken nur kurz überlebt"), die alten Ägypter ("Manchmal haben die Balsamierer geschlampt") und die Adligen aus der Gruft bei Ingolstadt ("Sie spielten wahrscheinlich eine wichtige Rolle in der napoleonischen Zeit"). Wenn irgendwo eine Mumie gefunden wird, klingelt bei Andreas Nerlich das Telefon. Dabei gehört die Arbeit an Leichen im Alltag nur bedingt zum Job eines Pathologen. Der besteht vor allem in Gewebeuntersuchungen. Die "Leichenschnippler", wie sie im Jargon heißen, arbeiten hingegen am Rechtsmedizinischen Institut der LMU München.

"Die Pathologie ist die Schaltzentrale der Diagnostik"

Nerlich wirkt entspannt an diesem Vormittag, als käme er gerade vom Wandern. Beinahe vergisst man, dass der 56-Jährige seit einigen Jahren die beiden Pathologischen Institute der Kliniken Schwabing und Bogenhausen leitet und als Paläopathologe international als bedeutender Mumienexperte gilt. Sein Arbeitsplatz liegt im letzten Trakt des Klinikums, noch hinter dem Wäscheraum, "doch die Pathologie ist die Schaltzentrale in der Diagnostik", sagt Nerlich. Auf Basis der Pathologie können Krankheiten richtig erkannt und dann behandelt werden. Nerlich schlitzt nicht Mordopfern den Brustkorb auf - er sieht medizinische, aber nicht menschliche Abgründe.

Vielleicht ist es das, was ihn davor schützt, zu werden wie seine bitterbösen Fernsehkollegen: Josef Hader mit düster-schwarzem Pathologenhumor im österreichischen Fernseh-Zweiteiler "Der Aufschneider" beispielsweise. Oder Jan Josef Liefers als morbid-verschrobener Boerne im Tatort Münster.

Pathologe Andreas Nerlich: Exakte Arbeit: Andreas Nerlich ist Chefarzt der Institute für Pathologie der Kliniken München-Bogenhausen und München-Schwabing.

Exakte Arbeit: Andreas Nerlich ist Chefarzt der Institute für Pathologie der Kliniken München-Bogenhausen und München-Schwabing.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Doch auch Nerlich hat schon oft erfahren, was Außenstehende von der Arbeit denken, die er an fünf Tagen in der Woche ausübt. Dabei sind das ausgerechnet die Tage, an denen er sich nicht mit dem Tod, sondern mit dem Leben beschäftigt. "Es ist viele Jahre her, da saß ich nach einer Tagung im Flieger", erzählt Nerlich. Eine junge Frau hatte den Platz neben ihm. Man war sich sympathisch, kam ins Gespräch. Dann die unvermeidliche Frage: "Was machen Sie beruflich?" Nerlich: "Ich bin Arzt." Sie: "Oh, was für ein Arzt?" Nerlich: "Pathologe." Den Rest des Fluges herrschte Stille.

Eine fantastische Disziplin

Als Nerlich als junger Uni-Absolvent seinem Professor ans Max-Planck-Institut in Martinsried folgte, hätte er selbst nie gedacht, dass die Pathologie mehr als nur ein Zwischenstopp sein könnte. Heute sagt er: " Es ist fantastisch, ich lerne jeden Tag etwas Neues - und die Arbeit ist nicht nur Labor und nicht nur Schnippeln."

Manchmal träumt er heimlich davon, dass die Pathologie an den Platz rücken könnte, an dem sie wissenschaftlich steht: in die Mitte der Lehre und Forschung, nicht am Rand, mit allerneuester Ausstattung. In Bogenhausen liegt die Pathologie unter dem Operationssaal. Die Arbeitsräume sind zwar altmodisch, aber lichtdurchflutet, draußen zwitschern Vögel, im Radio läuft "Geronimo". Heißt es nicht immer, in einer Pathologie sei es so gruselig, dass sie im letzten Eck des Gebäudes untergebracht sein müsse, dass sich niemand zufällig hineinverirrt?

Im Zweifel muss das Mumienschwein ran

Zumindest in München ist es nicht unheimlich. Es sieht nicht schlimm aus, es riecht nach nichts, außer vielleicht den Gummihandschuhen der Frauen, die über Mikroskope und Wasserbecken gebeugt sind. Sie bearbeiten kleine Stücke menschlichen Gewebes, "vom Gehirngewebe bis zum Zehnagel", sagt Nerlich. Das hört sich dann doch etwas eklig an. Die Proben stammen von Patienten, die ein Stockwerk höher beispielsweise einen Tumor entfernt bekommen.

Pathologe Andreas Nerlich: Nerlichs Beruf sorgt nicht immer für Gesprächsstoff.

Nerlichs Beruf sorgt nicht immer für Gesprächsstoff.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Mit der "Bockerlbahn" kommen Flüssigkeiten oder winzige Teile einer Biopsie wie mit einer Rohrpost vom OP in den Keller. Eine Bockerlbahn ist eigentlich eine kleine Nebentrasse für Züge, nach dem Zweiten Weltkrieg hieß so die Münchner Trümmerbahn. 50.000 Proben von 30.000 Patienten landen jedes Jahr in der Pathologie. Einige kommen sofort unter das Mikroskop, die Informationen gehen nach wenigen Minuten zurück in den OP und beeinflussen den Operationsverlauf. Schnellschnitt heißt das.

Exakte Handarbeit

Für ausführliche Untersuchungen muss das Gewebe haltbar gemacht werden. Dazu färbt eine von Nerlichs Kolleginnen zuerst das Gewebe ein, beispielsweise eine abgenommene Brust: Gelb malt sie die Rückseite an, schwarz die Unterseite, grün die Oberseite. So kann der Tumor später lokalisiert werden - wie liegt er, wie groß, wie sehen die Ränder aus? Dann schneidet sie die Brust in Scheiben und Stücke. "Hier ist alles Handarbeit", sagt Nerlich. Kunsthandwerk. Die Gewebestücke werden in Paraffin gegossen. Das dauert eine Nacht. Dann fertigt eine Assistentin hauchfeine Scheiben, befreit sie im Wasserbad vom Paraffin, färbt sie lila und versiegelt sie hinter Glas. Jetzt kann Nerlich sie unter sein Mikroskop legen. Die Gewebe sind jahrzehntelang haltbar.

"Wenn ich mich mit den Krankheiten von vor hundert oder zweihundert Jahren beschäftige, bin ich doch froh, dass ich heute lebe", sagt Nerlich und schaut auf einen Schnitt im Mikroskop. "Nie war die medizinische Diagnostik besser." Frage zum Schnitt: Ist die Verhärtung an der Wirbelsäule ein blauer Fleck oder ein Tumor? Für Nerlich eindeutig: "Schauen Sie sich die lila Punkte an, das sind Zellkerne. Sehen die an manchen Stellen anders aus?" Alles sieht gut aus. Bluterguss. Glück gehabt.

Auch die Arbeit an den Mumien läuft zum Teil unter dem Mikroskop ab, aber auch mit Röntgengerät, Lineal und Kamera. "Da kann ich ja nicht dran rumschneiden", sagt Nerlich. Seinem neuen Fund, den fünf Mumien aus der Gruft des ehemaligen Schlossherrn von Wackerstein, Friedrich Wilhelm Freiherr von Jordan, öffnete er zumindest die Brustkörbe. Dessen kleine Tochter war auf einer Reise künstlich mumifiziert worden, der Freiherr, seine Frau, Sohn und ein Freund mumifizierten auf natürliche Weise. Nerlich will herausfinden, woran sie starben - und welche Rolle sie in Napoleons Feldzügen spielten. "Wichtig ist, zu vergleichen, was wir biochemisch und geschichtlich herausfinden können."

Ein Schwein für Jahrtausende

Wenn er nicht mehr weiter weiß, zieht er sein Mumienschwein zu Rate. Moment, sein was? "Nun ja, das war nun eher eine Spezialität von mir", sagt Nerlich. Um zu zeigen, wie die Ägypter ihre Mumien haltbar gemacht hatten, wurde der Pathologe vor einigen Jahren selbst zum Balsamierer: Er weidete ein totes Schwein aus, füllte die Bauchhöhle mit Kräutern und Salz in Leinensäckchen und zog das Gehirn nach Ägypter-Art mit einem Haken durch die Nase. Dann legte er das Schwein in einen Sarg und bettete es in Hunderte Kilo Salz.

Ob es das Schwein noch gebe? Was für eine Frage! "Bis an mein Berufsende werde ich es in Schwabing beobachten und immer wieder Proben nehmen", sagt Nerlich. Das Schwein wird auf ihn warten. Da das Unterfangen Schweinemumie auf Anhieb glückte, ist die Mumie so haltbar wie ägyptische Mumien. Und die haben bekanntlich einige Jahrtausendwechsel miterlebt.

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