Paris, Wroclaw, Katowice:Anhörungstermine

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks tourt durch europäische Konzertsäle und sucht dabei nach Erkenntnissen für den Neubau des Saals im Münchner Werksviertel

Von Egbert Tholl

Paris ist auch keine Lösung. Aber man kann hier viel lernen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) reist durch Europa und spielt unter der Leitung von Mariss Jansons in einigen Sälen, in denen es noch nie war, nun aber durchweg bejubelt wird. Darunter eben die Philharmonie de Paris, eröffnet vor zwei Jahren, mit einiger Verzögerung und deutlich gestiegenen Kosten, knapp 400 Millionen. Nicht ganz Hamburger Dimensionen, aber doch eine Zangengeburt. Und zur Eröffnung auch noch ein bisschen Baustelle - sehr früh waren hier die Münchner Philharmoniker zu Gast gewesen.

Baustelle ist die Philharmonie nicht mehr, dafür wirkt sie an manchen Stellen schon wieder ein bisschen heruntergekommen, und die Orchesterwarte des BRSO kleben erst einmal ein Stück Schaumstoff an den Rahmen des niedrigen Portals, durch das die Musiker aufs Podium gelangen, damit niemandes Kopf zu Schaden kommt. Nichtsdestotrotz: Der Raum macht gewaltig Eindruck. Vielleicht zu viel Eindruck. Uneitel ist die Architektur von Jean Nouvel nicht, sie heischt Aufmerksamkeit, die Foyers sind beeindruckende Rennstrecken mit niedrigen Decken, der Backstage-Bereich ist reine Kunst, schwarz, die Musiker fühlen sich unwohl, in der kümmerlichen Kantine liegen bandscheibengefährdende Polster herum.

Man lernt auf dieser kurzen Reise - auf Paris folgen Wroclaw und Katowice: Es geht nicht um Akustik allein, wenn man für München den perfekten neuen Saal planen will. Es geht um Umkleiden und Toiletten, um Kantinen und Wege, um Atmosphäre und Farbgestaltung. Und das betrifft jetzt erst einmal nur die Räume, die das Publikum nie zu sehen kriegt. Da verwundert es schon, dass im inneren Kreis der Wettbewerbs-Jury für den Münchner Saal, also unter denen, die dann tatsächlich einen Entwurf prämieren, kein einziger Musiker sitzt. Dafür Architekten und Politiker. Aber vielleicht wissen die ja auch, wie beispielsweise ein Stimmzimmer aussehen muss. Falls sie wissen, was ein Stimmzimmer ist. Gleichwohl: Auf die Zusammenstellung der Jury angesprochen, setzt Jansons ein ganz schelmisches Grinsen auf und meint, man werde seine Wünsche schon zu Gehör bringen.

Zunächst bringt das BRSO ein Programm zu Gehör, dass man wohl am besten unter der Prämisse "wir testen einen Saal" begreifen kann: die Konzertouvertüre "Antigone" des 1997 gestorbenen, tschechischen Komponisten Vladimir Sommer, Mahlers "Kindertotenlieder" und Rachmaninows "Symphonische Tänze". Dazu zwei sehr aussagekräftige Zugaben, die Streichorchester-Variante eines Schubert-Moment-Musicaux und das irre Finale von Bartóks Suite "Der wunderbare Mandarin". Letzteres bringt die Pariser Philharmonie an die Grenzen ihres Fassungsvermögens, es flattert ein irritierendes Echo herum. Gleichwohl: Das ist ein guter Saal. Aber er ist halt auch nicht perfekt.

Alles, was leise ist, funktioniert sehr gut. Flageolett der Streicher - fabelhaft. Tutti-Klang im Forte: dicklich, zusammengerührt. Die Holzbläser blühen auf, wenn sie solistisch spielen dürfen; im Gesamtklang haben sie gegen Horn und Blech keine Chance. Es gibt viel Für und Wider hier, allerdings auf einem Niveau der Transparenz, das über weite Strecken beeindruckt. Und: Man hört Handys und Husten des Publikums sehr gut, in dem schwarzen Parkett, in das die Musiker hineinstarren. Im Prinzip folgt der Raum dem Weinberg-Prinzip, das heißt, das Orchester ist umrundet von Zuschauern, die sich auf vielgestaltigen Ebenen hoch hinauf verteilen. Sitzt man in der Anspielprobe hinter dem Orchester, erfährt man die Grenzen dieses Prinzips: Dass Gerhild Romberger die Mahler-Lieder singt, kann man nur noch erahnen. Stimme fokussiert nach vorn.

Doch in einer Hinsicht ist Paris vorbildlich: Hier wird ein enormes Education-Programm unterhalten, für das ein Gutteil der 80 Millionen Euro Jahresetat der Bespielung verwendet werden dürfte. Ach, noch etwas kann man lernen: Der Saal ist hoch variabel, das heißt, man könnte ihn für jede erdenkliche Situation umbauen. In der Folge indes wackeln und vibrieren Parkett und Podium so sehr, dass es bei einer Kontrabass-Attacke den Hornisten das Mundstück verrutscht.

Die Frage, Weinberg (etwa Berlin) oder Schuhschachtel (Herkulessaal), ist inzwischen insofern obsolet, als man meist auf Mischformen trifft. Yasuhisa Toyota, derzeit der meisthofierte Akustiker, präferiert eher den Weinberg, wie in Paris, wo er allerdings erst später hinzukam. In Katowice sorgte er für den Klang eines edel wirkenden Raums - viel Holz und schwarzer Beton -, der eben eine Mischform ist: eine organisch überformte Schachtel. Der Saal, der das NOSPR, das polnische Rundfunkorchester mit seinem Chef Alexander Liebreich, beheimatet, gilt jetzt schon als fast legendär. Er kostete umgerechnet 75 Millionen Euro, steht auf dem Gelände einer ehemaligen Zeche, fasst 1800 Menschen und ist doch nur ein Teil eines Umwandlungsprozesses, mit dem Katowice, in der Achtzigern als die am stärksten verschmutzte Stadt Europas bekannt, den Strukturwandel von Bergbau zu einer lebenswerten Kulturregion vollzieht. Egal, wie sehr die aktuelle politische Führung Polens an Europa zweifelt und manchen gefährlichen Blödsinn anzettelt - hier sieht man, wie das Land von EU-Geldern profitiert.

Aber darum geht es ja gar nicht. Eher darum: Viele Musiker lieben den Saal. Man höre sich auf dem Podium fabelhaft gut. Doch draußen fliegt der Klang nicht. Die Dynamik ist relativ eng, weder Pianissimo noch stärkstes Forte funktionieren im Sinne einer Überwältigung, der "Mandarin" bleibt zahm. Es herrscht die Studio-Atmosphäre einer überkultivierten Objektivität, wiederum auf hohem Niveau zwar. Aber ohne jede Sexyness. Und so bleibt die Erkenntnis, dass die besten Säle Toyotas in Japan stehen, in Kawasaki, Sapporo und Tokio. Die Suntory Hall dort, die erste Großtat von Toyota und seiner Firma Nagata Acoustics, ist für viele der Zuhörer und Musiker nach wie vor der beste Saal der Welt.

Wäre da nicht der Eindruck von der Anspielprobe in Wroclaw. Die Stadt hieß einst Breslau, nur zu Orientierung. Und man kriegt schlesische Küche zu essen. Immer noch. Neu aber ist der Saal, das "Narodowe Forum Muzyki". Ein Tick mehr Schachtel als Katowice, wieder 1800 Plätze, also wieder das für München Angestrebte. Kosten: 115 Millionen Euro inklusive Vorplatz und Tiefgarage mit 700 Plätzen. In seiner leicht technoiden Anmutung erinnert der Saal innen an den in Luzern; den entwarf zwar Jean Nouvel (siehe Paris), die Akustik aber stammt von Russel Johnson. Dessen Ideen führte nach seinem Tod 2007 die Firma Artec fort, und diese nun gestaltete den Klang in Wroclaw, namentlich ist hier Tateo Nakajima verantwortlich.

Das sind ja alles Gurus. Johnson war einer, Toyota gilt vielen als einer. Und auch Nakajima hat das Zeug dazu, ist aber unterhaltsam. "Es ist schwer, über Akustik zu reden." Sagt er, und redet viel tolles Zeug, etwa, dass er in Wroclaw ein Jahr vor dem Architekturentscheid die Akustik designt hatte. Kaum ein Saal klingt so tief. Man hört die Musik dreidimensional, als völliges Gegenteil von Fläche. Der Saal hilft beim Verzaubern, man muss ihm nichts abtrotzen, er unterstützt jede Dynamik. Zwar legt sich ein leichter Schleier auf die Brillanz, wenn er voll ist - in der Probe war der Klang unfassbar. Aber Ortung, Transparenz und unmittelbare Präsenz bleiben großartig. Vielleicht kann man, wie in Luzern, noch ein bisschen mit den variablen Echokammern spielen, um das Ergebnis zu vervollkommnen. Aber im Kern ist es eine beeindruckende Erfahrung.

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