Pädagogik-Konzept:Lernen durch Entdecken

Seit sechs Jahren schon arbeitet das NS-Dokuzentrum an spezifischen Bildungsangeboten für Jugendliche. Den Verantwortlichen ist vor allem wichtig, Bezüge zur Gegenwart herzustellen.

Von Melanie Staudinger

Faszination, Verfolgung und Widerstand: Fast zwei Jahre lang haben Münchner Schüler das Leben von Gleichaltrigen während der nationalsozialistischen Herrschaft erforscht. Sie sprachen mit Zeitzeugen, recherchierten die Verfolgungsgeschichte von Walter Klingenbeck, der sich als Jugendlicher gegen das Regime aufgelehnt hatte, untersuchten die Auswirkungen der NS-Ideologie auf Lehrplan, Schulbücher und die Einstellung der Lehrer am Beispiel des Luisengymnasiums. Die Resultate der historischen Spurensuche waren in einer Wechselausstellung mit dem Titel "Jugend im Nationalsozialismus - Faszination Verfolgung Widerstand" zu sehen. Bei der Umsetzung geholfen haben Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums.

Das Team, das für die Bildungsangebote des Dokumentationszentrums verantwortlich ist, arbeitet schon seit 2009. Thomas Rink und Felizitas Raith haben mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verschiedene Projekte ausprobiert, modifiziert und die ein oder andere Idee auch wieder verworfen. Doch jetzt, sechs Jahre später, wenn die ersten Besucher kommen, können sie auf ein breites Konzept zurückgreifen, dessen wichtigster Schwerpunkt das Lernen am historischen Ort ist, wie Rink erklärt. "Wir wollen Wissen vermitteln, das mit dem Ort des NS-Dokumentationszentrums oder der Stadt München verbunden ist", sagt er. Fakten, die nicht in jedem Schulbuch stehen, Ereignisse, die Geschichte alleine schon durch ihre räumliche Nähe erlebbarer machen.

"Es wird aber nicht für jeden dasselbe Angebot geben", sagt Raith. Gerade bei Schülern wollen sie und ihr Kollege auf das Vorwissen, den Bildungsstand und die Sprachkompetenz eingehen. Oberstufenschüler etwa könnten viel mehr Text bewältigen als ein 15-jähriger Mittelschüler. Für Schüler, die sich sprachlich schwertun mit dem Ausdruck, gebe es Tanz- und Kunstprojekte. Das Dokumentationszentrum bietet Programme für Viert- und Fünftklässler, die jedoch anders konzipiert sind als für 18 Jahre alte Berufsschüler. Die Kleinen nähern sich der Geschichte über die Biografien von Gleichaltrigen an, die in der NS-Zeit lebten, etwa über Anne Frank. "Wir sprechen mit den Kindern nicht über den Massenmord", sagt Raith. "Aber über Mobbing, das kennen viele leider schon."

Für Berufsschüler hingegen sei ihr Job der ideale Einstieg, um sich mit der NS-Geschichte Münchens auseinanderzusetzen. So beschäftigte sich eine Gruppe Auszubildender aus dem Rathaus mit dem Verwaltungshandeln im Dritten Reich und der Beteiligung an den Nazi-Verbrechen. Azubis im Einzelhandel erforschten die Geschichte ihrer Betriebe, etwa die Arisierung, Berufsschüler aus dem Sozialwesen die Kindheit und Jugend in der NS-Zeit. "Es war eine spannende Erfahrung für die Teilnehmer, wenn sie gesehen haben, wie ihre Betriebe mit der Vergangenheit umgehen", sagt Raith. Für alle Programme gilt: Die Jugendlichen sollen neue Erkenntnisse selbst herausfinden, entdecken eben.

Historisches Wissen ist die Basis für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart

Und sie sollen einen Gegenwartsbezug, einen Bezug zu ihrem eigenen Leben herstellen. Dieser Ansatz ist nicht unumstritten, birgt er die Gefahr einer unzulässigen Gleichsetzung. "Wir stellen uns mit den Jugendlichen die Frage: Was hat das mit mir zu tun?", sagt Rink. Niemals aber gehe es darum, wie die jungen Menschen selbst damals gehandelt hätten: "Diese Frage lässt sich seriös nicht beantworten", erklärt Rink. Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart sei immer das historische Wissen, "nur so lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten", sagt er. Ein mögliches Thema sei etwa die Diskriminierung: Aus der Diskussion sollen Kinder und Jugendliche dann Handlungsansätze für sich selbst erarbeiten nach dem Motto: "Wie verhalte ich mich, wenn ich Ausgrenzung bemerke?"

In ihrer Arbeit greifen Raith und Rink viel auf schriftliche Quellen zurück. Sie haben aber auch zwei Programme mit Zeitzeugen entwickelt. Beim einen geht es um Ernst Grube, der als Jugendlicher Theresienstadt überlebt hat, beim anderen um den Sinto Hugo Höllenreiner, der in Auschwitz Versuche des Arztes Josef Mengele über sich ergehen lassen musste. "Wir werden die Begegnung mit Zeitzeugen in der Bildungsarbeit nicht eins zu eins ersetzen können, wenn es keine Überlebenden mehr gibt", sagt Raith. Gerade das NS-Dokumentationszentrum biete aber durch seinen starken Bezug zum historischen Ort große Chancen.

Chronik: Die Entstehung des NS-Dokumentationszentrums
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