Olympische Winterspiele 2018:Ein großes "Wir"

Die Olympischen Winterspiele als Mega-Event sind eine Erfindung der Neuzeit. Wenn es glückt, ist es aber viel mehr als nur eine Geldmaschine - es ist dann ein Moment der Selbstfindung.

Gerhard Matzig

Am 11. Januar reichen München und Garmisch-Partenkirchen das "Bid Book" ein. Das sind die offiziellen Bewerbungsdokumente für die Winterspiele 2018. Aber will man die Spiele überhaupt? Laut Umfrage sind mehr als 60 Prozent der Deutschen dafür. Umweltverbände und Grüne kritisieren jedoch das Projekt.

Vierschanzentournee - Garmisch-Partenkirchen - Richard Freitag

Die Chancen für München und Garmisch-Partenkirchen die Winterspiele 2018 zu bekommen, stehen gut - nur die Bürger verhalten sich recht teilnahmslos. Ganz anders bei der Vierschanzentournee in Garmisch. Tausende waren gekommen, um den Skispringern zuzujubeln.

(Foto: dpa)

Das Event ist ohne die Grundannahme, mindestens megamäßig zu sein, gar nicht mehr denkbar. Am 5. August findet zum Beispiel ein "Mega-Event im wunderschönen Pütnitz bei Ribnitz-Damgarten" statt. Gemeint ist damit eine Schnitzeljagd mit Hilfe von GPS-Koordinaten: Geocaching. Man tritt weder dem wunderschönen Pütnitz noch Ribnitz-Damgarten zu nahe, wenn man dieses Mega-Event als etwas bezeichnet, was ohne GPS-Koordinaten kaum aufzufinden wäre. Und zwar auch deshalb, weil sich in diesem Jahr Mega-Event an Mega-Event reiht. Weshalb auch der "Oldie-Marathon auf Schalke" im Mai vorsorglich als "gigantisches Mega-Event" geplant wird.

Wohl deshalb sind auch die unvergleichlichen Rubettes dabei ("Sugar Baby Love", 1974) - falls die nicht bei der "Tattoo Convention Frankfurt" im April hängenbleiben, denn die Tattoo-Messe schickt sich an, "das Mega-Event Europas", wenn nicht sogar das der Tattoo-Szene zu werden.

Angesichts der weltweit verbreiteten Eventitis könnte man den Bayern sogar dankbar sein. Die Stadt München bewirbt sich zusammen mit Garmisch-Partenkirchen um die Winterspiele 2018, und zwar mit recht guten Erfolgsaussichten - aber die Bevölkerung steht dem (naturgemäß als "Mega-Event" geplanten) Ereignis denkwürdig megalos gegenüber. Man könnte auch sagen: von definitiv ablehnend über kritisch bis lethargisch oder dezent zustimmungswillig. Die üblichen Berufseuphoriker fallen da kaum ins Gewicht.

Kurz: München und das Oberland wirken zur Zeit so, als ob man nichts dagegen hätte, wenn die Winterspiele 2018 im schönen Pütnitz stattfänden. Wahlweise auch im schönen Annecy oder im schönen Pyeongchang, die sich gleichfalls um die Ehre der Gastgeberschaft bemühen. Indessen scheint man sich hier zu fragen: Wer braucht schon ein Mega-Event? Braucht die Welt Winterspiele in München und Garmisch-Partenkirchen? Und braucht man umgekehrt die Welt in München, in Garmisch-Partenkirchen gar?

Reiner Umwelt-Terror

Die Antwort liegt auf der Hand: Die Welt wie auch Bayern selbst als Freistaat, sie brauchen ein Mittel gegen den Klimawandel, für Frieden, Wasser und Brot. Spiele braucht man nicht zum Leben - dem Schiller'schen Homo ludens zum Trotz, der bekanntlich nur dort Mensch ist, wo er spielt. Wer aktuell den Begriff "Spiel" googelt, landet schnell beim Online-Spiele-Portal "Kiezking", wo man von einer Halb- bis Neunzehntel-Nackten aufgefordert wird: "Komm, spiel mit mir." Schiller ist nicht auf dem neuesten Stand.

Es ist folglich schwer, etwas zu mögen, was sich als Mega-Event unter Millionen Mega-Events abgenutzt und als reines Wirtschaftsinteresse, als reiner Umwelt-Terror, als reines Polit-Geklüngel oder als reine Doping-Zone hinreichend selbst denunziert hat. Also: Aber ja doch, man kann natürlich guten Gewissens gegen die Winterspiele 2018 in Deutschland sein. Sie können einem außerdem auch völlig egal sein. Mehr, viel mehr gehört allerdings dazu, sich dafür zu begeistern. Mehr Zukunftslust allemal.

Denn das sogenannte Event, das sich auch als Ereignis beschreiben ließe, ist auch dazu imstande, ein Ort der Gemeinschaft zu sein - ein Ort der Selbstvergegenwärtigung. Ein Ort folglich inmitten der globalisierten Ortlosigkeit, dazu eine Identitätsstiftung inmitten der Identitätslosigkeit und ein Gemeinsames inmitten der überindividualisierten, in prekäre Stimmungen und Launen zerfallenden Gesellschaft. In diesem Sinn wären die Spiele 2018, könnte man sich nur gemeinsam dafür begeistern, eine Energiequelle, eine Stimulanz.

Eine gewaltige Geldmaschine

Nichts hätte Deutschland nötiger, um der wie mit Händen zu greifenden Lethargie dieser Gegenwart zu entkommen. Diesem apokalyptischen Gejammer und Genörgel, das einem im Ausland, wo Deutschland als Insel der Seligen bekannt ist, niemand glauben mag, weil es angesichts wirklicher Not und wirklicher Perspektivlosigkeit anderswo so unbegreiflich ist. Man hat das Gefühl, in einem wohlhabenden, satten und überdies depressiv verstimmten, auf aggressive Weise introvertierten Land zu leben.

Ein Land, das nichts mehr will, weil es schon alles hat. Seit Jahren hat es in Deutschland kein einigendes, freudvolles Projekt mehr gegeben, auf das man sich ohne Vermittlung von Heiner Geißler (und auch dann nicht) verständigen könnte. Olympia 2018 wäre eine Chance dazu. Dass das Bid Book der Bewerbung zu einem Zeitpunkt abgegeben wird, da kurz zuvor der "Wutbürger" zum "Wort des Jahres" ernannt wurde, ist in diesem Zusammenhang alles andere als ermutigend. Viel würde man darum geben, einmal wieder einem Mutbürger zu begegnen, der nicht nur gegen dieses und jenes und auch noch gegen das Gegenteil davon ist, sondern auch einmal für etwas.

Große Ereignisse waren zu allen Zeiten bedeutsam für Gemeinschaften. Immer dienten sie der Definition und einem großen "Wir". Schon im Mittelalter suchten die Städte ihre Wettbewerbsvorteile, man buhlte erst um Märkte und Turniere, später um Kathedralen und Universitäten. Die Sportarenen heutiger Prägung sind die Nachfahren der Rathäuser und Kirchen. Es sind Versammlungsstätten, ja öffentliche Orte inmitten einer immer sowohl privatistischer als auch virtueller werdenden Welt. Ein großes, über die Grenzen ausstrahlendes Ereignis ist ein Gegenentwurf dazu - das gilt auch für eines, das aus dem Sport kommt und zugleich eine gewaltige Geldmaschine ist. Es wäre naiv zu glauben, das IOC hätte nur die Völkerverständigung oder gar die "Jugend der Welt" im Blick. Es wäre aber auch naiv, wollte man das Potential der letzten großen, vor allem aber echten Events nicht sehen.

Nein, die Spiele sind nicht per se grün, und nicht alle ökologischen Bedenken zeugen vom Bedenkenträgertum; und nein, die Menschen, die sich im Oberland verweigern, sind nicht alle querulatorischer Natur. Aber ja: Die Spiele 2018 können grandios werden. Das ist 1972 geglückt und auch bei der WM 2006. In der Nachkriegszeit hat sich Deutschland durch die Sommerspiele in München befreit vom Schatten des tausendjährigen Reiches - zumindest bis zur Geiselnahme.

München, das heute so über die Maßen gelangweilt erscheint angesichts der eigenen Bewerbung, profitiert noch heute von der Dynamik und vom Image, die damals von wenigen Menschen und übrigens auf eine ganz und gar undemokratische Weise geschaffen wurden. Und die Fußballfeier vor vier Jahren in Berlin und anderswo: Sie hielt für die Welt eine unfassbare Botschaft bereit - dass man in diesem Land so etwas wie Freude haben kann. Und bei aller grundsätzlichen Zankhaftigkeit und Verzagtheit im deutschen Gemüt: ein Gemeinsames, ein Wir.

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