Olympiapark:Klassenzimmer

Wenn nicht gerade Paul McCartney oder Bruce Springsteen zu Gast sind, ist das Olympia-Stadion heute meist verwaist. Deshalb wird es unter der Woche als Lernort genutzt. Fan-Betreuer sensibilisieren Schüler in Intensiv-Workshops gegen Gewalt

Von Helena Ott, Olympiapark

Starr schauen sich beide direkt in die Augen. Alex und Patrick halten den Blick, ihre Mitschüler haben schon längst lachend aufgegeben. Sie gehen zusammen auf die Berufsschule, kennen sich seit knapp acht Monaten. "Aber wenn einen ein Fremder auf der Straße oder im Club mehr als drei Sekunden in die Augen schaut, ist das schnell unangenehm, oder wird sogar als Provokation aufgefasst", erklärt Sandra Münzberg den Sinn der Übung. Die Diplom-Pädagogin ist beim Münchner Informationszentrum für Männer (MIM) Trainerin. In ihrem beruflichen Alltag hat sie es mit Gewalttätern auf Bewährung zu tun, sie übt mit ihnen Aggressionen los zu werden, ohne zuzuschlagen.

Bei "Lernen mit Kick" ist ihr Klientel ohne Vorstrafen: Eine Berufsschulklasse für Einzelhandel, eine Klasse, in der alle zuvor Abitur gemacht haben. "Für uns ist das heute auch eine Ausnahme, sonst sind die Schüler meist jünger und eher aus Mittel- und Realschulen. Dann geht es auch turbulenter zu." Sebastian Drescher vom Fanprojekt der Arbeiterwohlfahrt (Awo) freut sich über die Klasse aus der Lindwurmstraße. Anmelden für die Lerneinheiten in Olympia-Atmosphäre können sich alle Münchner Schulklassen von der achten Klasse an.

Der Fan-Betreuer hat die Referentin vom MIM für den Workshop eingeladen, weil sie Expertin auf dem Gebiet Gewaltprävention ist. Auch Dreschers berufliches Kernklientel ist normalerweise härter: Es sind die blauen und roten "Ultras". "Einzeln sind das oft echt nette Jungs, nur wenn sie in der Gruppe auftreten, kann es zu aggressiven Konflikte kommen", sagt der Sozialpädagoge, der seit einem Jahr die Fans der Münchner Löwen betreut. Die Fan-Projektler sind eine Art Streetworker in den Stadien: Sie beschwichtigen hochgekochte Gemüter, verhindern Stadionschlägereien und bieten Ultras neben den Spielen ein Freizeitprogramm und Workshops an. "Unser Ziel ist, eine positive Fankultur zu schaffen und Gewalt und Diskriminierung zu vermeiden", so der 33-Jährige.

Doch das Fanprojekt möchte sein Umfeld Stadion auch als Lernort nutzen: kurze Intensiv-Workshops für Schulklassen sollen für wichtige Themen, wie Gewalt, Sucht oder Schulden sensibilisieren. Dafür haben Sebastian Drescher und seine Kollegen eine ganz besondere Lokalität ausgewählt: Die Schulklassen lernen dort, wo man normalerweise nur mit Führung reinkommt - im historischen Olympiastadion: nach den Olympischen Spielen 1972 auch der Austragungsort von mehr als 1100 Bundesligaspielen der "Blauen", des TSV 1860 München, und der "Roten", des FC Bayern München. Wenn nicht gerade Paul McCartney oder Bruce Springsteen zu Gast sind, ist das Olympia-Stadion heute meist verwaist. Die Idee, leere Stadien unter der Woche als Klassenräume zu nutzen, stammt aus England.

Los geht der Unterricht in der ehemaligen VIP-Lounge des Stadions, wo vor dem Umzug in die Allianz-Arena noch die Spielerfrauen von Löwen und Bayern flanierten. Sandra Münzberg arbeitet mit Beispielen aus der Arbeit mit ihren Klienten im MIM oder zitiert prominente Fälle, wie den Mord an Dominik Brunner in Solln. Die Klasse hört ihr gebannt zu: Münzberg erklärt, wie man es schafft, "Einladungen" von jemandem, der auf Stress aus ist, nicht anzunehmen. Ihre wichtigste Botschaft: "Gewalt ist immer eine Entscheidung." Es gebe keine Ausreden, wie "Ich hatte getrunken"; Alkohol enthemme, mache aber nicht aggressiv. Wer zuschlage, sei also in vollem Umfang verantwortlich. "Auch Notwehr darf nur so weit gehen, dass man akute Gefahrensituation abwehrt", betont die Diplom-Pädagogin. Ein 20-jähriger Schüler will wissen, wie das ist, wenn ihm jemand eine Ohrfeige gibt. "Wie, ich soll das dann echt einfach hinnehmen?", fragt er ungläubig, als Sandra Münzberg erklärt, dass man nicht zurückschlagen dürfe.

Der einzig rechtlich gedeckte Weg sei die Anzeige. Unter den 23 Abiturienten sind wenige, die auch selbst schon Gewalt angewendet haben. Trotzdem ist das Thema für sie nicht nur blanke Theorie. "Mein Exfreund hat mich gewürgt und geschlagen", berichtet Diane W. von ihrer letzten Beziehung. Auch ein 25-jähriger Münchner hat schon die Erfahrung gemacht, verprügelt zu werden: Vier fremde Jungs hatten es beim Feiern auf ihn abgesehen. Der zweistündige Workshop geht schnell vorüber. "Was wir erreichen wollen, ist das Thema Gewalt präsent zu machen, und dass sich Schüler in den entscheidenden Momenten überlegen, ob es keine Alternative gibt", schildert Sebastian Drescher sein Anliegen, was die Schüler in der zweistündigen Lerneinheiten mitnehmen sollen. Warum so ein wichtiges Thema ins Olympiastadion gehört, liegt für ihn auf der Hand: "Ich bin mir sicher, dass sich ein Besuch im Stadion den Schülern einprägt. Und dadurch bleiben auch die Inhalte eher präsent". Deshalb sollen die Schüler im Olympiastadion auch nicht nur lernen, sondern auch das Stadion erleben: Laurin Breiter holt die Klasse zur Stadionführung ab. Die 21 Schüler stehen in den Stadionrängen, über ihnen spannt sich das Zeltdach aus Acrylglas auf, ein Symbol für Transparenz und Offenheit nach der NS-Herrschaft. "Man wollte ein dezentes Stadion, nicht so einen riesenhaften Bau wie das Berliner Modell", erklärt Laurin auf die Frage, warum das Stadion so konzipiert wurde. Als er fragt, ob jemand die olympische Fackel entdeckt, müssen die Schüler erst suchen, bis sie die unscheinbare Halterung auf der gegenüberliegenden Stadionseite entdecken - auch das ein Symbol der Demut.

Im kurzen Film, den Laurin zeigt, bekommen die Schüler einen Eindruck von der Panik und Trauer, die nach der blutigen Geiselnahme der israelischen Sportler herrscht. Die Flaggen sind auf Halbmast, Menschen legen Blumen im Stadion nieder. Aber "The games must go on": Laurin erklärt, dass die Spiele am Tag darauf fortgeführt wurden - man wollte sich von Gewalt und Terror nicht diktieren lassen.

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