Oktoberfestattentat von 1980:Rechtsextremismus statt Liebeskummer

Oktoberfest-Attentat 1980

Oktoberfest-Attentat 1980: Kurz nach 22 Uhr explodiert die Bombe. Die Toten werden geborgen, und die Stadt lässt, nur Stunden später, den Tatort überteeren.

(Foto: AP)

Kaum einer glaubt, dass er alleine handelte: Gundolf Köhler riss im September 1980 auf dem Münchner Oktoberfest zwölf Menschen mit sich in den Tod. Die Ermittler stellten den Attentäter als verschrobenen Eigenbrötler mit Liebeskummer dar. Doch in Wirklichkeit war er hochpolitisch.

Von Annette Ramelsberger und Katja Riedel

Der Mann, der am 26. September 1980 den folgenschwersten Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte verübte, schien für die Ermittler kein Rätsel zu sein. Wer die Schlussverfügung der Generalbundesanwaltschaft aus dem Jahr 1982 liest, der findet ihn darin beschrieben als Inkarnation des verschrobenen Eigenbrötlers.

Jedenfalls gewichteten die Ermittler alles, was dieses Bild untermauerte, außerordentlich hoch: Ein von Liebeskummer geplagter Student der Geologie aus dem kleinen Donaueschingen, der nur wenige Freunde hatte, depressiv war und voller Weltschmerz. Ein Mann, der sich lieber in seinen Keller einschloss und dort mit Sprengstoff hantierte, als auszugehen und mit Gleichaltrigen Spaß zu haben. Einer, der dann noch durch eine wichtige Uni-Prüfung rasselte und daraufhin nicht nur seine eigene Welt auf dem Münchner Oktoberfest in die Luft sprengte, sondern zwölf weitere Menschen mitriss. Einer, der ein Fanal setzte.

Koffer, Zigaretten, Spuren - verschwunden

Diese Charakterisierung hat sich gefügt, sie hat etwas passend gemacht, was eigentlich nicht passte, sie hat Zweifel kaschiert, die auch die Ermittler hatten. Und diese Zweifel haben sich ausgewachsen: zu offenen Fragen, zu Mythen, die sich um das Oktoberfestattentat ranken, heute wie im Jahr 1982, als die Bundesanwaltschaft die Aktendeckel zugeklappt hat.

Warum hat einer als Einzeltäter gehandelt, der in den Tagen, ja sogar in den Minuten vor der Detonation der Bombe von mehreren Zeugen in Begleitung mehrerer Personen, möglicher Mittäter, gesehen wurde? Warum sind wichtige Asservate so schnell verschwunden? Ein Koffer, den Köhler am Tatort dabei hatte zum Beispiel. Dutzende Zigaretten aus Köhlers Auto, in dem ihn Zeugen mit mehreren Insassen gesehen haben wollen. Ein Fragment einer abgetrennten Hand, deren Spur sich bereits in den Tagen nach dem Attentat verliert. Diese ordnen die Bundesanwälte sicher Köhler zu, obwohl sich in seiner Wohnung nur ein einziger entsprechender Fingerabdruck auf einem Aktenordner findet, kein einziger aber in seinem Auto.

Warum sind so viele Akten unter Verschluss?

Warum sind bis heute so viele Akten von Geheimdiensten und sogar des Kanzleramts unter Verschluss, wie die Bundesregierung soeben erst auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion eingeräumt hat? Und woher hatte der 21-jährige Student überhaupt den Sprengstoff, von dem auch feinste chemische Untersuchungen keine Spur fanden, nicht am Tatort, nicht im Auto, nicht in dem Keller, in dem Köhler zumindest die Bombenhülle gebaut haben soll?

Vielleicht hatte er ihn doch von dem Neonazi Karl-Heinz Lembke aus der Lüneburger Heide. Jenem Mann, der einer Stuttgarter Gruppe kurz vor dem Wiesn-Anschlag Sprengstoff angeboten hatte - und über dessen mögliche Tätigkeit als V-Mann eines Geheimdienstes sich die Bundesregierung bis heute ausschweigt.

Mangelhaftes Täterprofil befeuert Zweifel

"Dabei braucht man die Gesamtschau, braucht Klarheit, um Verschwörungstheorien vorzubeugen", sagt der Bundestagabgeordnete Konstantin von Notz (Grüne). Er hat für seine Fraktion die Bundesregierung mit all diesen Fragezeichen konfrontiert. Nicht auf alles hat er Antworten bekommen. Und doch hat ihn der Inhalt der 20 Seiten langen Antwort verblüfft: "Zusammenfassend kann man sagen: Die Bundesanwälte haben die Ermittlungen abgeschlossen, ohne dass ausermittelt war. Und das beim schwersten terroristischen Anschlag der Bundesrepublik."

Für Zweifler setzen sich all diese offenen Fragen zu einer Theorie zusammen: Dass es eine Übereinkunft staatlicher Stellen gegeben habe, schnell den Deckel draufzumachen. Und vor allem nicht so weit nach rechts zu schauen. Dorthin, wo Gundolf Köhler sich aufhielt, wenn er nicht seinem Liebeskummer nachhing.

Der ganz andere Gundolf Köhler

Das mangelhafte Täterprofil: Es ist für all jene Antrieb, die ihre Zweifel seit nunmehr 32 Jahren in unermüdliche Recherchen stecken. Denn es gibt auch einen ganz anderen Gundolf Köhler. Der hatte zwei enge Freunde, mit denen er darüber sprach, wie man die Welt verändern wolle.

GEDENKEN AN OKTOBERFEST-ATTENTAT

Gedenken an das Oktoberfest-Attentat: Demonstranten bringen ihre Zweifel an de Hintergründen zum Ausdruck.

(Foto: DPA)

Mit Bomben zum Beispiel, in Großstädten, auch in München, vielleicht sogar auf dem Oktoberfest. Das soll er erzählt haben, bei den Gesprächen in seinem Jugendzimmer unter dem Hitlerbild, das dort hing, seit Köhler 14 Jahre alt war. Den Aussagen des Freundes, der all das zu Protokoll gab, schenkten die Ermittler jedoch sehr wenig Glauben - der Mann soll unter einer schweren psychischen Störung gelitten haben.

Ein hochpolitischer junger Mann, kein Liebeskranker

Köhler und seine Freunde betrachteten die Welt aus sehr rechter Perspektive. Er interessierte sich für die NPD, besuchte Veranstaltungen von ihr, befürwortete den Völkermord an den Juden, als 16-Jähriger fuhr er erstmals zu Übungen der rechtsradikalen Wehrsportgruppe Hoffmann. Nach eigenen Aussagen nahm er an Ausschreitungen einer rechtsextremen Gruppierung teil.

Er besaß einen Mitgliedsausweis der rechten Wiking-Jugend, die Bundeswehreinrichtungen überfallen und dabei Munition gestohlen hatte. Und auch an seinem Studienort Tübingen suchte er die Nähe rechter Kreise, zum Beispiel des rechtsextremistischen "Hochschulrings Tübinger und Reutlinger Studenten". Ein hochpolitischer junger Mann, kein Liebeskranker.

Sein Bruder Hermann berichtete der Polizei, Gundolf habe sich als "Teil einer kleinen Elitegruppe" gefühlt, die im Fall einer Veränderung der Bundesrepublik "zur Machtübernahme" bereitstehen sollte.

Verwöhntes Nesthäkchen mit selbstgebauter Granate

Die beiden engsten Freunde Gundolfs, der damals 24 Jahre alte Jurastudent Erich L. und der damals 21 Jahre alte Bernd K., besuchten einander gegenseitig, machten Ausflüge in andere Städte, sie gingen gemeinsam in Bordelle. Und sie diskutierten. Erich L. war sehr verschlossen, als die Polizei zu ihm kam, und die Ermittler sagten, dass er mit der Wahrheit nur sehr taktisch umging. Er hatte sogar das Strafgesetzbuch aufgeschlagen und sich den Paragrafen angestrichen, in dem es um "Nichtanzeige einer Straftat" ging.

Die Fahnder schlossen daraus, dass der Mann von den Attentatsplänen gewusst haben könnte, dennoch glaubten sie ihm weitgehend - zumindest was die Schilderungen über seinen Freund Gundolf angingen, die Geschichte vom traurigen Einzelgänger.

Gundolf Köhler war das Nesthäkchen der Familie, von allen verwöhnt. Er ging zur Schule, machte Abitur, nur in Mathe tat er sich schwer. Er bewarb sich bei der Bundeswehr und wollte "Feuerwerker oder Waffen-, Raketen und Munitionstechniker" werden. Er wurde jedoch als Fahrer und im Bürodienst eingesetzt. Der Dienst bei der Bundeswehr war ein wenig anders als das, was er mit seinen rechten Kameraden der Wehrsportgruppe Hoffmann in den fränkischen Wäldern geübt hatte.

Beziehungen zu Mädchen waren Jahre her

Dort hatte er seine selbst gebaute Granate geworfen, bei der Bundeswehr musste er durch den Dreck robben. Schon bald hatte er genug davon. Jahre zuvor hatte er sich bei der Explosion eines von ihm gebauten Sprengsatzes einen Gehörschaden zugezogen, den baute er nun in seinen Schilderungen aus und wurde schon nach ein paar Monaten wegen Dienstunfähigkeit entlassen. Er ging an die Uni Tübingen, um Geologie zu studieren.

Kurz vor dem Anschlag schloss er sich einer neuen Band an, am Tag nach dem Anschlag wollten sie wieder proben. Auch Freundschaften mit Mädchen waren nicht gerade erst auseinander gegangen, das war alles Jahre her, oft waren es gar keine Beziehungen, sondern nur der Wunsch, der nicht erwidert wurde. Das alles sieht nicht so aus, als wenn da einer hätte abschließen wollen.

Kaum einer glaubt, dass Köhler allein handelte

Und auch in Karlsruhe sieht man all diese Unstimmigkeiten im Täterprofil genauso. Kaum einer glaubt, dass Köhler allein gehandelt hat - auch die Bundesanwälte nicht. Ob sie die Ermittlungen aufnehmen, entscheiden sie wohl noch vor Jahresende, allerdings ohne alle Akten zu kennen: Denn diese liegen überall verstreut.

Erstaunlich viele Akten wurden im Laufe des vergangenen Jahres aus Kellern von Ministerien in Bayern und anderen staatlichen Stellen, etwa dem Bundesnachrichtendienst, an Archive abgegeben. Zu den Handakten der Karlsruher Staatsanwälte zählen sie nicht. Warum eigentlich nicht? Vielleicht könnten sie mehr erzählen, auch über den Mann, der Gundolf Köhler hieß. Und über Männer und Frauen, die neben und hinter ihm gestanden haben könnten. Der 23. November 1982, der Tag, an dem der Generalbundesanwalt die Einstellungsverfügung unterschrieb - er wird vermutlich kein Endpunkt bleiben.

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