Oktoberfest:Warum man die Wiesn ernst nehmen muss

Riesenrad und Kettenkarussell auf dem Oktoberfest in München, 2013

Das Oktoberfest ist und bleibt ein Volksfest - und war schon immer sehr viel mehr.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Sylvia Krauss-Meyl, Historikerin am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, hat ein erstaunliches Buch über das Oktoberfest geschrieben.
  • Sie beleuchtet die Wiesn von allen Seiten - und sie nimmt das gigantische Fest ernst.
  • Krauss-Meyl hat einige Anekdoten zutage gefördert, die so bislang noch nicht bekannt waren.

Von Jakob Wetzel

Bier, Tracht und Achterbahn, dazu ein paar volkstümliche Anekdoten, etwas Blasmusik und ein Hauch von Skandal: Das ist das Erfolgsrezept für ein Buch über das Oktoberfest, und daran herrscht kein Mangel. Es gibt derart viel Wiesn-Literatur voller heiterer, aber altbekannter Anekdoten und Bilder von Bierkrügen, Dekolletés und Lederhosen, dass man meint, wenn noch etwas fehlt, dann allenfalls der Überblick.

Es ist daher ein erstaunliches Buch, das Sylvia Krauss-Meyl geschrieben hat, denn mühelos ragt es aus dieser Menge heraus. Und dafür gibt es einen schlichten Grund: Es nimmt die Wiesn ernst. Krauss-Meyls Oktoberfest ist weit mehr als ein institutionalisierter Exzess. Es ist ein gigantischer Markt, ein Abbild der Gesellschaft, vor allem aber eine Bühne der Macht.

Es gehe ihr um den Zeitgeist, und der spiegle sich im Oktoberfest deutlicher als anderswo, schreibt die Historikerin am Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Und tatsächlich hat dieses Fest einiges im Gepäck: die Aufklärung, die Monarchie und die werdende Demokratie, das Ringen um eine bayerische Identität, sehr viel Geld - und vor allem große Politik, von Anfang an.

Es geht immer um die große Politik

Am Beginn stehen die Könige, die versuchen, aus einer Volksbelustigung mit Pferderennen ein bayerisches Nationalfest zu schmieden - mit nahezu allen Mitteln. 1806 war Bayern zu einem eigentümlichen Königreich erhoben worden, zu dem nicht nur Untertanen gehörten, die sich keineswegs als Bayern fühlten, sondern mit Max I. Joseph auch ein König, der kein Bayer war, sondern Pfälzer - und noch dazu einer, dem der Schock der Französischen Revolution in den Knochen saß. Ein gemeinsames Fest sollte das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken. Den Anlass bot die Hochzeit des Kronprinzen Ludwig mit Therese von Sachsen-Hildburghausen am 12. Oktober 1810, dem Namenstag des Königs. Das allererste Oktoberfest hieß deshalb zunächst "Maximilianswoche".

Der Ablauf und die Bedingungen des Festes waren dabei präzise durchgeplant. Und das Königshaus zeigte Präsenz. Am Festsonntag saß die Familie von 14 bis 17 Uhr in einem Königszelt und ließ sich huldigen. Der König gab sich als Landesvater und mischte sich unter seine Untertanen. Und selbst der gewählte Ort entsprach dem Kalkül: Die nun nach der Braut "Theresienwiese" genannte Fläche zwischen München und Sendling war im Jahr 1705 Schauplatz der "Sendlinger Mordweihnacht" gewesen: Österreichische Soldaten schossen hier Bauern aus dem Oberland zusammen, die München befreien wollten. Seitdem war der Platz ein Symbol für bayerischen Patriotismus und Treue zum Fürstenhaus.

Jeder König setzte eigene Akzente

In den folgenden Jahren setzten die Könige je eigene Akzente. Maximilian II. etwa institutionalisierte die Tracht, um den feiernden Menschen ein Gefühl von Gemeinschaft zu vermitteln - ein Konzept, das noch immer aufgeht. Sein antikenverliebter Vater Ludwig I. hatte die Wiesn da bereits in ein pseudo-historisches Fest verwandelt und die Tradition der Festumzüge begründet, und zwar mit einer 86 Wägen fassenden Prozession, deren Teilnehmer der Einfachheit halber sämtlich aus der näheren Umgebung stammten, die aber die Bevölkerung ganz Bayerns repräsentieren sollten.

1842 organisierte der König gar eine Massenhochzeit: Er lud 35 Brautpaare aus allen Regierungskreisen Bayerns ein, um gemeinsam mit Kronprinz Max und Marie von Preußen Hochzeit zu feiern - und zwar am 12. Oktober, seinem eigenen Hochzeitstag. Nach der Trauung ging es auf die Theresienwiese. Und hier, am heutigen "Kotzhügel", sollten Ruhmeshalle und Bavaria dem Ort den letzten nationalbayerischen Schliff geben.

Die Wiesn ist die beste Werbung für München

Erstes Oktoberfest 1810 anlässlich der Hochzeit von Kronprinz Ludwig von Bayern

Beim ersten Oktoberfest 1810 ließ sich die königliche Familie im Königszelt huldigen.

(Foto: SZ-Photo)

Der einzige Wittelsbacher, der das Oktoberfest nicht als Bühne nutzte, war Ludwig II., dessen Verhältnis zu München ohnehin schwierig war. Unter ihm gab es weder offizielle Umzüge noch besuchte er das Fest regelmäßig. Aber selbst er prägte auf seine Weise die Wiesn, argumentiert Krauss-Meyl: Hätte sich Ludwig II. mehr für die Symbolik des 12. Oktober interessiert, hätte er es nie zugelassen, dass die Stadt das Fest 1872 in den September vorverlegte. Grund dafür war das schlechte Oktoberwetter: Zuvor hatte die Stadt das Fest wiederholt vorzeitig abbrechen müssen. Dem "Märchenkönig" war es egal. Und so geht ein populäres Wiesn-Rätsel letztlich auch auf ihn zurück: Warum heißt es "Oktoberfest", wenn im September gefeiert wird?

Wie ernst die Wiesn dagegen sein kann, das zeigt Krauss-Meyl plakativ, wenn es um die dunklen Seiten ihrer Geschichte geht. Im Nationalsozialismus wurde das Fest tiefgreifend vereinnahmt: Nie zuvor und nie wieder hätten staatliche Organe das Erscheinungsbild und den Ablauf derart einer Doktrin angepasst, heißt es. Doch schon im Kaiserreich wurde das Oktoberfest Schauplatz rassistischer "Völkerschauen", mit denen die Regierung die eigene Kolonialpolitik unters Volk bringen wollte.

Die Wiesn als Ort der Völkerverständigung

Und heute? Ist die Wiesn alles Mögliche: ein Wirtschaftsfaktor, ein mediales Ereignis, eine "spottbillige Imagekampagne" für die Stadt München, aber auch ein Ort der Völkerverständigung, an dem nicht nur Bayern, sondern Menschen aus aller Herren Länder in Dirndl und Lederhosen schlüpfen, also in das von König Max II. geförderte bayerische Nationalkostüm.

Und bis heute ist das Oktoberfest eine politische Bühne. Wie einst die Könige würden bayerische Politiker das Fest zum Netzwerken und zur Selbstdarstellung nutzen, schreibt Krauss-Meyl. Obwohl es seit 1818 die Stadt München ist, die das Oktoberfest ausrichtet, sei aus diesem faktisch ein bayerisches Fest geworden - wenn nicht in den Köpfen der Bayern selbst, wie ursprünglich geplant, dann zumindest in denen der anderen: Im Ausland stehe die Wiesn heute sinnbildlich für den Freistaat, wenn nicht für ganz Deutschland.

Sogar die Bundestagswahl wurde schon verschoben

Welche Bedeutung das Fest hat, illustriert Krauss-Meyl mit einer viel zu wenig bekannten Episode: Als 1957 Oktoberfestbeginn und Bundestagswahl auf den gleichen Tag angesetzt worden waren, fürchtete man einen Interessenkonflikt - um eine Woche verschoben wurde aber nicht das Oktoberfest, sondern die Wahl.

Überhaupt die Anekdoten: An den berühmten Wiesn-Momenten und Originalen kommt auch Krauss-Meyl nicht ganz vorbei. "Wer ko, der ko"-Lohnkutscher Franz Xaver Krenkl hat ebenso seinen Auftritt wie der "bayerische Herkules" Hans Steyrer und Oberbürgermeister Thomas Wimmer mit seinem ersten Fassanstich 1950. Wie viele Schläge er dabei brauchte, ist umstritten; Krauss-Meyl zufolge waren es 17, auf jeden Fall aber zu viele.

Sylvia Krauss-Meyl: Das Oktoberfest. Zwei Jahrhunderte Spiegel des Zeitgeists, Regensburg: Pustet-Verlag, 144 Seiten, 12,95 Euro.

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