Oktoberfest:So erleben Anwohner die Wiesn

Schild "Festwiese" in München, 2012

Wo bitte geht's zum Oktoberfest? Das Schild "Festwiese" soll Touristen den Weg weisen. Dort angekommen, sollte man zumindest ein paar Regeln beachten.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Wenn Alltag und Feierlaune aufeinanderprallen: Sechs Geschichten aus der Wiesn-Nachbarschaft.

Von Ingrid Fuchs, Martin Moser, Franz Kotteder, Birgit Kruse und Lisa Schnell

Theresienhöhe, Schwanthalerhöhe, Bavariaring - ganz passable Wohnlagen, wird der Laie jetzt sagen und vergisst dabei die kritischste Zeit des Jahres. Denn während der Wiesn schwappen die Massen abends aus den Bierzelten, um sich dann durch die Vorgärten der Anwohner zu schieben. Wer noch mal muss, stellt sich gschwind an einen Baum, Zaun oder Hauseingang. Und wem vor lauter Hendl, Bier und gebrannten Mandeln schon ganz übel ist, der macht es ähnlich. Aber die Wiesn bringt für die Anwohner auch schöne Begegnungen, neue Bekanntschaften und tiefe Erkenntnisse mit sich. Wenn Alltag und Feierlust aufeinanderprallen: Sechs Geschichten aus der Wiesn-Nachbarschaft.

Sailor Moon und Ziegenpeter in der Supermarktschlange

In der Kassenschlange vor mir steht Sailor Moon. Kurzes Röckchen aus blauglänzendem Polyester, hohe Stiefel, zwei Zöpfchen. Sie schwankt leicht, stützt sich aber mit einer Hand am Band ab und hält sich mit der anderen an einer Bierflasche fest. Hinter mir wartet ein Mann, der eine Parodie auf den Ziegenpeter sein könnte. Plastiklederhose, lustige Strümpfe, noch lustigerer Hut. Ziegenpeter macht an diesem Nachmittag keinen Großeinkauf, drei Flaschen Bier stehen vor ihm. Dahinter: mehr Männer, mit mehr Bierflaschen. Dazwischen: ich, mit Karotten, einer Flasche Milch und Käse.

Wer an einem Wiesnnachmittag auf der Schwanthalerhöhe ganz gewöhnliche Lebensmittel im Supermarkt kauft, fühlt sich fast wie ein Alien. An der Kasse jedenfalls. Beim Einkaufen selbst, zwischen Obst- und Nudelregal, ist man fast ungestört. Eine Mauer aus Bierkästen, die Mitarbeiter gleich am Eingang aufgebaut haben, funktioniert wie ein Verkehrsleitsystem für Wiesnsparfüchse. Reinkommen, zugreifen, zahlen und tschüss. Nur ganz selten verirrt sich jemand in die Tiefen des Supermarktes - und hinterlässt dann im Zweifelsfall gute Anekdoten. Wie die vom Lederhosen-Träger, der an der Käsetheke mit ziemlicher Ausdauer zwei Mass Bier bestellen wollte. Ingrid Fuchs

Die Geheimnisse des Masskrugschmuggelns

Als ich vor zehn Jahren in die unmittelbare Nachbarschaft der Theresienwiese zog, weihte mich der Hausmeister in die wahren Geheimnisse ein, die man kennen muss, wenn man hier wohnt. "Jeder, der auf der Wiesn einen Masskrug stiehlt, ist ein ausgemachter Depp", sagte er. "Du musst bloß an einem Wiesntag früh aufstehen und den Bavariaring entlanggehen. Da liegen nämlich genügend Masskrüge rum." Die, die von den Besoffenen mitgenommen wurden und ihnen dann auf dem Heimweg zu schwer wurden. Man müsse sie nur noch einsammeln, da habe man schnell aus jedem gewünschten Zelt einen.

Ansonsten ist es ruhig geworden, bei uns im Südteil der Wiesn, seit dort Parklizenzgebiet ist. Zuvor hatte dort die Abschleppfirma Eichenseher mit ihren gelben Wagen ein sehr einträgliches Auskommen. Das reichte vermutlich für den halben Jahresumsatz, denn alle fünf Minuten rückte ein neuer Abschleppwagen an. Wie gesagt: vorbei! Franz Kotteder

Die Nachbarschaft ist wie ausgewechselt

Wo unser Nachbar vom Haus gegenüber sonst abends gerne mal mit seiner Nudelmaschine frische Pasta macht, stehen nun vier Asiatinnen. Offenbar Airbnb-Gäste. Die Damen putzen in der Küche ihre Zähne und grinsen herüber. Dass es dafür auch ein Badezimmer geben würde, haben sie wohl nicht so ganz verstanden. Zum Oktoberfest fühlt es sich ein bisschen so an, als ob jemand zwischen dem Bavariaring und der Lindwurmstraße kurzfristig die Nachbarschaft ausgetauscht hätte. In den Hinterhöfen parken Autos aus Schweden oder Norwegen und die Fahrräder verschwinden im Keller - aus Vorsicht vor den Pinkelangriffen der Betrunkenen. Im Lieblingsrestaurant um die Ecke stehen sogar andere Tische - die lassen sich leichter reinigen, sagt der Wirt.

Das alles nimmt man ohne große Aufregung hin. Nur wenn mitten in der Nacht sechs betrunkene Lederhosenträger an der Haustür klingen, weil sie sich nicht mehr an die richtige Adresse erinnern, dann wünscht man sich schon wieder die normale Zeit zurück. So ganz ohne Riesenrad und Freefalltower vor dem Wohnzimmerfenster. Martin Moser

Italiener-Camp im Westend

Immer wenn ich früher in die Arbeit gegangen bin, musste ich am Georg-Freundorfer-Platz im Westend vorbei. Am Italiener-Wochenende war der Platz voll mit Wohnwägen aus Italien. Das war ein Bild: In der Nacht kriechen sie mit Müh und Not in ihre fahrbaren Behausungen, wer es nicht geschafft hat, liegt schnarchend am Boden. Der eine verrichtet seine Notdurft in den Büschen, die anderen stehen schon wieder mit Spiegel und Zahnbürste auf der Straße und putzen sich das Bier vom Vorabend aus dem Mund, um gleich wieder loszuziehen. Tracht war damals noch nicht angesagt auf der Wiesn. Die Italiener-Tracht gab es aber auch damals schon: eine besondere Vorliebe für würdevoll gestaltete Wiesn-Hüte. Ein langjähriger Bewohner des Westends, 43 Jahre (Protokoll von Lisa Schnell)

Einhörner vor dem Küchenfenster

Zum Frühstückskaffee gibt's den Geruch von frischen Brathendln, hin und wieder schafft es auch der Duft frisch gebrannter Mandeln ins Zimmer. Vormittags ziehen vorm Küchenfenster im ersten Stock Einhörner, Prinzessinnen oder Delfine vorbei - dann, wenn sich die Luftballonverkäufer auf den Weg zum Oktoberfest machen. Die Wiesnzeit auf der Schwanthalerhöhe hat durchaus schöne Seiten, auch für Anwohner. Wenn man mal zeitig ins Bett will, wird man beim Einschlafen vom wiederkehrenden Kreischen der Fünfer-Looping-Fahrgäste eingelullt, man weiß genau, wann die Leute gerade kopfüber in der Achterbahn hängen.

Einen Fernseher braucht man in diesen Tagen sowieso nicht: Es verirren sich immer wieder ein paar Wiesnbesucher mit Faschingstrachten in die Straßen, das ist wie eine kleine lustige Modenschau. Und wenn sie doch mal alle den Weg aufs Oktoberfest finden, gibt es immer noch die Boazn gegenüber. Da laufen nämlich auch Wiesnhits. Ingrid Fuchs

Verwirrte auf der Hackerbrücke

Wenn es darum geht, die Feiernden auf die Wiesn zu lotsen, ist die Stadt jedes Jahr vorbildlich: Schon weit vor dem Festgelände weisen Schilder und Bodenbemalungen den richtigen Weg. Eigentlich ist das Oktoberfest nicht zu verfehlen. Vor allem nicht, wenn man an einem sonnigen Samstagnachmittag an der Hackerbrücke aussteigt. Von hier aus muss man sich nur in den Strom der Trachtenträger einreihen und wird so automatisch in Richtung Festwiese geschoben.

Wie es die beiden Frauen in jugendlichem Trachtenoutfit dennoch schaffen, konsequent in die falsche Richtung zu laufen, bleibt - vor allem Einheimischen - rätselhaft. Am Circus Krone, von der Hackerbrücke etwa 400 Meter in die falsche Richtung entfernt, sind nur noch wenige Trachtler zu sehen. Spätestens da kommen den beiden Frauen dann auch Zweifel, sie tippen aufgeregt auf ihre Handys, gucken sich mehrfach um und fragen dann die einzige Passantin ohne Dirndl: Wie geht es hier eigentlich zum Oktoberfest? Birgit Kruse

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: