Oktoberfest im Handyrausch:Simsalabim, wir sind drin

Boris Becker fotografiert Bierleichen mit der Handykamera, Wiesnbesucher prahlen im Netz mit der Anzahl der getrunkenen Maß und Bedienungen werden zu Facebook-Stars: Was wäre das Oktoberfest ohne Smartphones? Kuriose Eindrücke von der digitalen Wiesn.

Anna Fischhaber und Lisa Sonnabend

Blonde Haare, rosa Dirndl und das Telefon am Ohr: Im Gedränge am Haupteingang des Oktoberfests steht eine junge Frau. "Weißt du nicht, wo der Haupteingang ist?", ruft sie in ihr Smartphone. "Oder das Hippodrom? Das rot-orange Zelt!" Sie hört kurz zu. "Ihr seid falsch! Ihr müsst doch nur geradeaus gehen." Dann legt sie auf. "So schwer kann das doch nicht sein", schimpft sie und zieht mit ihren Freunden davon. Ob das mit dem Treffen heute noch klappt? Sicher scheint nur: Zuvor werden noch einige Telefonate geführt werden.

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Millionen Menschen sind auch in diesem Jahr wieder auf dem Oktoberfest zu Gast - und sie alle wollen telefonieren, SMS verschicken oder gleich mit der Anzahl der getrunkenen Maß im Netz prahlen. Der Neuigkeitswert eines Facebook-Posts sieht in etwa so aus: "Ich hab übrigens schon drei Bier" - verschickt als Frühstücksgruß samt Beweisfoto. An einem durchschnittlichen Wiesnsamstag werden allein über das Netz der Telekom mehr als eine halbe Million Telefongespräche auf der Theresienwiese geführt und mehr als 300.000 SMS verschickt, berichtet das Unternehmen.

Zudem gibt es Jahr für Jahr mehr Wiesn-Apps, die über die Wiesnzelte informieren oder Bairischkurse für Anfänger anbieten. Sogar zahlen kann man inzwischen per Handy auf der Wiesn. Allerdings nicht für sein Bier, sondern vorerst nur für Souvenirs. Vier Verkäuferinnen im Hippodrom und im Käferzelt sind dafür mit einem iPhone ausgerüstet worden. Angeblich läuft das Geschäft prächtig.

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Damit das Netz auf der Wiesn nicht zusammenbricht, beginnt der Aufbau der Technik bereits im August, wenn die Bauarbeiter die ersten Schienen am Fünferlooping zusammenschrauben. Elf Standorte für Mobilfunkmasten gibt es auf der Theresienwiese, jeder Mast ist bis zu 15 Meter hoch. Zudem wird ein eigenes Glasfasernetz gebaut, damit auch die Internetverbindung funktioniert. Das übertragene Datenvolumen hat sich 2011 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Immerhin: Auch zwei Telefonzellen wurden auf der Wiesn aufgestellt.

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Im Fundbüro hinter dem Schottenhamel-Zelt zieht Chefin Sabine Eisenhauer eine Schublade mit der Aufschrift "Apple" auf. Nach der ersten Woche ist sie bereits gut gefüllt, genau wie die mit den anderen Marken. Fast alle Modelle der vergangenen Jahre gibt es hier. Einige Displays sind zersplittert, diese Geräte wurden direkt unter einem der Fahrgeschäfte gefunden. Bis Sonntag werden fast 500 Handys im Fundbüro abgegeben werden, schätzt Eisenhauer. Ein neuer Rekord.

Die Wiesn endet nicht hinter der Theresienwiese

Wie verändert die permanente Kommunikation die Wiesn? Gab man sich früher mit einer Zufallsbekanntschaft am Biertisch zufrieden, hält es inzwischen kaum mehr jemand den ganzen Abend in nur einem Zelt aus. Stattdessen werden immer neue Treffpunkte mit immer neuen Bekannten per Handy ausgemacht. Ob das sinnvoll ist?

"Nein", sagt Brigitte Veiz. "Es ist ja überall so voll, dass man sich auch mit Handy kaum findet." Seit 20 Jahren betreibt die Psychologin Feldforschung auf dem Oktoberfest. In ihrem Buch "Wiesn Wahnsinn", erschienen im Hirschkäfer Verlag, hat sie absurde SMS-Dialoge gesammelt. Zum Beispiel diesen:

Iris, 20.50Uhr: Wir stehen jetzt da.

Petra, 20.55 Uhr:Wer wir?

Iris, 20.57 Uhr: Der Dings ist auch dabei.

Petra, 20.59Uhr: Der Dings?

Iris, 21.03 Uhr: Weißt scho!

Petra, 21.06 Uhr: Bisserl spät. Bin schon drin.

Iris, 21.09 Uhr: Wie kommen wir rein?

Petra, 21.12 Uhr: Kaum noch. Schwierig!

Iris, 21.42 Uhr: Wir sind drin. Ich und der Dings.

Petra, 21.45 Uhr: Ja toll!

Iris, 21.47 Uhr: Wo bist du?

Petra, 21.49 Uhr: Ich bin draußen. Kannst aufmachen?

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Das größte Volksfest der Welt endet nicht mehr um 23 Uhr und auch nicht hinter der Theresienwiese. Auf Facebook werden noch in der Nacht die lustigsten Bilder hochgeladen: Freundinnen, die Männer umarmen, die nicht ihre Partner sind. Bekannte, deren kariertes Trachtenhemd verrutscht ist und die enthemmt auf der Bierbank schunkeln.

Auf Twitter werden die Erlebnisse noch einmal in 140 Zeichen zusammengefasst. Doof nur, wenn jemand gerade ein Schläfchen auf dem Hügel hinter den Zelten hält, Boris Becker vorbeikommt, die Handykamera zückt und die Bierleiche - wie am ersten Wiesnsonntag - seinen 120.000 Followern präsentiert. Am Morgen danach hat der erste Bekannte dann bereits seinen Status aktualisiert: "Ich gehe heute auf die Wiesn - wer kommt mit?" Gegen Mittag tippt ein Freund ins Smartphone: "Ist jetzt hier: Schützenzelt". Seit es Smartphones gibt, ist die Wiesn immer und überall.

Die Bedienung droht: "Hendl oder Handy?"

Liegt nicht der Reiz des Oktoberfests darin, dass am Biertisch aus Fremden neue Freunde werden und man vorher nie weiß, wie der Abend endet? Psychologin Veiz sieht das gelassen: Nach ein paar Maß tippe niemand mehr am Handy herum, dann zähle nur noch das Hier und Jetzt. "Die Wiesn hat zu viel Eigendynamik, zu viel Wucht - das kann das Smartphone nicht kaputt machen." Etwas bewirkt habe das Handy dennoch: "Das Publikum hat sich verändert", sagt Veiz. Weil jüngere Leute einfach besser vernetzt seien. "Wenn die ihre Wiesnbilder posten, vermitteln sie damit, dass das Oktoberfest in ist - und locken noch mehr Bekannte in ihrem Alter an, auch von außerhalb."

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Kellnerin Henna findet, es ist vor allem viel unruhiger durch die Telefone im Bierzelt geworden. Sie lehnt an einem Balken in der Bräurosl. Seit Jahren kellnert sie hier, seit Jahren beobachtet sie: "Es wird immer mehr getippt, fotografiert und telefoniert." Oder besser gesagt: versucht zu telefonieren. "Die schreien immer so laut ins Telefon und verstehen gar nichts." Wenn jemand ein Handy zückt, muss auch sie oft mit aufs Bild. Wahrscheinlich ist sie mittlerweile ein richtiger Facebook-Star.

Was die Kellnerin besonders nervt: Wenn sie mit dem vollem Tablett kommt, liegen die Handys oft aufgereiht an der Kante des Biertisches. Henna hat mittlerweile einen Trick entwickelt: "Hendl oder Handy?", ruft sie dann laut. Oder sie droht: "Ich stell die Maß gleich auf eure Telefone!" Dann werden die Handys schneller weggezogen, als der Free Fall den Boden erreicht. Und plötzlich ist die Wiesn wieder handyfrei. Zumindest an einem Biertisch.

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