Oktoberfest:Die sechs Phasen der Wiesnliebe

Ähnlich wie der Liebeskummer folgt auch die Wiesnliebe gewissen Mustern. Es gibt aber einen großen Unterschied.

Von Laura Kaufmann

1. Unbändige Vorfreude

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(Foto: dpa)

Dass die Zeit der gemütlichen Grillabende langsam vorbei geht, macht dem treuen Wiesn-Freund nichts aus. Statt dem Sommer hinterher zu trauern, besucht er so oft es geht die Baustelle an der Theresienwiese und sieht voller Vorfreude zu, wie die Zelte und Fahrgeschäfte in die Höhe wachsen. Nebenbei muss die Tracht noch in Ordnung gebracht werden: Fehlt irgendwo ein Knopf? Wäre es überzogen, sich schon wieder ein neues Dirndl anzuschaffen? Zum Start soll alles perfekt sein. Dem fiebert der Wiesnliebhaber entgegen wie ein kleines Kind Weihnachten. In der Whatsapp-Gruppe "Anstich" wird seit Ende August rege diskutiert, wer dieses Jahr mit Weißwurstfrühstück ausrichten an der Reihe ist.

2. Der Exzess

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(Foto: REUTERS)

Wenn es dann endlich losgeht, gibt es kein Halten mehr. Die Wiesn muss in vollen Zügen ausgekostet werden, und zwar ab dem Anstich. Wie schön das alles blinkt und leuchtet, wie fröhlich alle aussehen, wie gut das alles schmeckt! Das Bier, die Hendl! Der Wiesnliebhaber schwebt im siebten Himmel, schon bevor er in den Sky Fall gestiegen ist. Seiner Lieblingsbedienung fällt er strahlend um den Hals. Auf den Samstag folgt der Sonntag; so ein schöner, gemütlicher Tag. Und am Montag schaut er mit den Lieblingskollegen vorbei. Nur der Abstecher in die Milchbar nach Zeltschluss, den hätte er sich vielleicht doch lieber sparen sollen.

3. Die Wiesngrippe

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(Foto: dpa)

Weil's gar so schön war, hat der Wiesn-Fan in seiner Euphorie etwas übertrieben. Jetzt läuft ihm die Nase und der Husten, der klingt auch nicht besonders gut. Das Bier, das hat doch schon mal besser geschmeckt, und den obligatorischen Schnapsstandbesuch nach dem Zelt, den lässt er heute lieber ausfallen. Es bahnt sich etwas Furchtbares an: ein erster Fehltag. Denn wie man es drehen und wenden mag, es lässt sich nicht wegzudiskutieren: Die Wiesngrippe hat zugeschlagen.

4. Die Gewöhnung

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(Foto: Robert Haas)

Ist die Wiesngrippe mehr oder weniger überwunden, setzt eine Phase der Gewöhnung ein. Der Wiesnliebhaber trägt jetzt öfter Tracht als Jeans und die Wiesnhits gehen ihm schon textsicher über die Lippen. Wie er die Feierabende ohne Wiesn verbrachte, daran erinnert sich der harte Fan schon kaum mehr. Es müssen jedenfalls triste 50 Wochen gewesen sein. Seit es sie wieder gibt, ist die Entscheidung, was in der Freizeit unternommen werden soll, so wunderschön einfach. Alte und neue Freunde prosten ihm zu, die Abende sind mal mehr, mal weniger wild. Aber immer schön. Bis sich das Wiesntief anbahnt.

5. Das Wiesntief

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(Foto: Stephan Rumpf)

Der Wiesnliebhaber steht auf der Bierbank im Zelt, ein Australier grölt ihm ins Ohr. Dessen Fahne ist beachtlich. Was hat der nur gegessen? Überhaupt, Gerüche. Es gibt Abende, da wünscht der Liebhaber, das Rauchverbot würde zur Hölle, Hölle, Hölle fahren. Das bisschen Rauchgestank war nichts im Vergleich zu den Körperausdünstungen, die ihm jetzt gerade in die Nase wehen. Einem, der durch den Gang stolpert, schwappt das halbe Bier aus der Mass und in den Schuh des Wiesnliebhabers. Die Kapelle spielt das Fliegerlied, zum drölfhundertsten Mal, und der Tisch brüllt wie eine Kindergartengruppe für Zombies mit weit aufgerissenen Augen: "I fliag! Fliag! Fliaaaaag!" Bei allen anderen scheint das Bier besser anzuschlagen. Als der Wiesnliebhaber schon vor Schluss das Zelt verlässt, kann er gerade noch so einem Torkelnden mit glasigem Blick ausweichen und tritt dabei in etwas Weiches. Er sieht nicht nach, was es war. Vielleicht wäre ein Abend auf dem Sofa doch eine Alternative. Vielleicht würde das Fest dann wieder mehr Spaß machen. Manchmal nimmt der Wiesnliebhaber also billigend einen Fehltag in Kauf, um die Wiesnliebe nicht überzustrapazieren.

6. Der Abschiedsschmerz

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(Foto: Getty Images)

Und dann ziehen sie doch so schnell vorüber, diese 16 Tage. Die Gewöhnung weicht ganz schnell einer eigentümlichen Melancholie. Es fühlt sich ein wenig so an, wie es der letzte Urlaubstag immer tut. Morgen früh schon wird der Alltag wieder hereinbrechen. Grau, nass und immer dunkler werdend, wie es der Herbst so an sich hat. Die Freunde werden sich hinter ihren Netflixaccounts verkriechen und sich nur noch gelegentlich als soziale Wesen beweisen. Aber noch ist es warm im Zelt, und alle liegen sich in den Armen. Als die Band den letzten Song anstimmt, sagen wir "Sierra Madre", erhellt ein Meer von Wunderkerzen den Zelthimmel. Wie wunderschön das aussieht! Tränen der Rührung bahnen sich an. Aber der Wiesnliebhaber blinzelt sie selbstverständlich weg, denn es wäre nun wirklich albern, wegen des Endes eines Volksfestes zu heulen. Und wenn er das nicht schafft, wischt er sie unauffällig beiseite. Morgen, im Büro, wenn der Wiesnliebhaber an seinem Kaffee nippt, wird ihm kurz so sein, als spiele eine kleine Blaskapelle "Ein Prosit der Gemütlichkeit" in seinem Ohr, nur für ihn. Noch 50 Wochen. Die nächste Wiesn kommt bestimmt.

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