Obergiesing:"Es gibt keinen Verein, den die Fans so hassen und trotzdem dabeibleiben"

Obergiesing: Ein Ort, an dem Männer noch in Ruhe ihr Bier anschweigen können: Tony's Stüberl.

Ein Ort, an dem Männer noch in Ruhe ihr Bier anschweigen können: Tony's Stüberl.

(Foto: Stephan Rumpf)

Gemeint sind natürlich die Löwen-Fans. Viele von ihnen leben in Giesing, dem alten Grattlerviertel, und freuen sich über die Rückkehr ins Grünwalder Stadion. Ein Spaziergang.

Von Wolfgang Görl

Es ist unübersehbar, dass der TSV 1860, dieser ebenso stolze wie bedauernswerte Verein, für diese Kneipe maßgebend, wenn nicht gar identitätsstiftend ist. Dass sie darüber hinaus einem vielfach preisgekrönten Schriftsteller, der, sofern es um Fußball geht, der Gegenseite zugewandt ist, als Wellnessoase dient, ist dem Lokal hingegen nicht anzusehen. Ja, man ist geradezu überrascht, weil man das Vorurteil hegt, Literaten seien empfindsame Geister, die sich eher in kultivierten Salons bei einem Glas Barolo von den Mühen des Schreibens erholen.

Doch Friedrich Ani, der so viele großartige Krimis geschrieben hat, entspricht nun mal nicht diesem Klischee. Und so sitzt er abends gern in "Tony's Stüberl", allein mit sich und Radio Arabella - hier läuft immer Radio Arabella -, und beobachtet die vorbeibrausenden Autos auf der Martin-Luther-Straße, während das Bier, das er sachte in sich hineingießt, den "ganzen Irrsinn", der sich während des Schreibens in seinem Kopf angesammelt hat, allmählich vertreibt.

Von hier aus ist die Heilig-Kreuz-Kirche zu sehen, auch die Flutlichtlichtmasten des Grünwalder Stadions spitzen hervor, und schräg gegenüber hat sich der Giesinger Bräu eingerichtet. Dies ist Giesing, Anis Giesing, die Gegend um das Stadion, eindeutig ein Löwen-Viertel, wie man an den zahllosen 1860-Aufklebern sieht, die an Regenabflussrohren pappen. Vor rund 30 Jahren ist er hierhergezogen - auch damals spielte die erste Mannschaft der Löwen im Grünwalder Stadion. Ampfing, Kronach oder Vestenbergsgreuth waren die Gegner, es waren die Niederungen der Bayernliga, in welche die Sechziger nach dem Lizenzentzug im Jahr 1982 hinabgerutscht waren.

In diesem Viertel, wo die Eingeborenen ihren Löwenblues in Stehkneipen ertränkten, nistete sich Ani seinerzeit ein. Und er ist geblieben, nach zwei Wohnungswechseln innerhalb Obergiesings lebt er jetzt in der Wirtstraße. Zum Grünwalder Stadion, in das die Blauen nach den endlos erscheinenden Jahren in der Diaspora zu Fröttmaning wieder zurückkehren, sind es nur ein paar hundert Schritte, die sich Ani allerdings ersparen wird, denn er hält es ja mit den Roten.

Dann lieber in Tony's Stüberl, in dem er auch an diesem Montag zur Mittagszeit sitzt, um für einige Minuten zu verschnaufen. Eine Halbe Bier zur Erfrischung, die Kellnerin hinter dem Tresen fackelt nicht lange, der Bierdeckel, den sie Ani zuwirft, landet auf dem Boden. Und weil sonst niemand im Stüberl ist, hat man einen freien Blick auf die erlesene Dekoration: Ein Foto des ehemaligen Löwenstürmers Olaf Bodden, Mannschaftsfotos und Zeitungsausschnitte zum Thema 1860, Maßkrüge, Schals, Wimpel, Aufkleber und ein Fußball in Weißblau, drei Spielautomaten, ein Stoffpinguin (ohne Löwentrikot) und das Schild: "Leg dein Geld in Alkohol an. Wo bekommst du sonst 60%?"

"Ich bin gern hier", sagt Ani. Früher hieß die Boazn "Zauberwürfel"; sie war, erzählt er, eine Rockerkneipe, dann hat Antonio de Almeida den Laden übernommen, ein Portugiese, der, wie Ani weiß, früher am Bau gearbeitet und in Afrika gelebt hat. Weiter kommt er nicht mit seiner Erzählung, weil der Bierfahrer eintrifft, der das Fass auswechseln muss, das unter dem Tresen lagert. Ani steht dabei im Weg, weshalb er gezwungen wird, in den Nebenraum zu wechseln, der ein luftiger Holzverschlag ist.

Hier, inmitten weiterer 1860-Devotionalien, sitzen tatsächlich Gäste, drei Männer, jeder an einem eigenen Tisch, jeder ein Bier vor sich, jeder schweigend. Der eine wischt unentwegt über sein Smartphone, die beiden anderen starren ins Leere. Vielleicht lassen sie alte Löwenspiele Revue passieren, vielleicht den legendären Derbysieg gegen den FC Bayern im November 1999, als Thomas Riedl das einzige Tor schoss und zum Fußballgott wurde.

Tony schneit herein, sieht Ani und brummt: "Ja mei, der Fritzi." Die Männer schweigen weiter. Tony: "Prost Fritzi!" Fritzi: "Prost Tony!" Kein Wort über 1860, nicht mit dem Bayernfan Ani, der ansonsten hier wohlgelitten ist. Vielleicht ist es auch klüger, die Heimkehr der Sechziger ins Grünwalder Stadion in aller Stille zu begehen. Lauter Jubel könnte die Teufel wecken, die seit Menschengedenken nichts anderes im Sinn haben, als die Löwen immer tiefer in den Abgrund zu stürzen.

Es ist Zeit, den Spaziergang durch Anis Giesing zu beginnen. Zuvor noch eine Zigarette - nicht, weil man sie nötig hätte, sondern um die Sensation zu feiern, dass im Holzbau Rauchen erlaubt ist. Währenddessen kommt kurz der Verdacht auf, es könnte sich bei den drei reglosen und stummen Zechern um eine künstlerische Installation handeln. Ach, was! Wenn es gilt, das Bierglas an den Mund zu führen, kommt doch noch Leben in die Männer.

Und mit einem Mal ist es, als wäre diese Löwenhöhle nicht nur mit Zigarettenqualm gefüllt, sondern auch mit einer Wolke des Wohlgefühls: Es ist gut, dass es solche Stüberl noch gibt. Dass sie nicht längst verdrängt worden sind von hippen Szenebars, in denen man Modedrinks und vegane Salate serviert und wo coole Typen die Gentrifizierung beklagen, von der sie selbst ein Teil sind. In Obergiesing ist das noch so, wenn auch hier die Stüberl weniger werden. Was aber ist, wenn eines Tages alle dichtgemacht haben? Wo sollen die Männer dann hingehen, um ihr Bier anzuschweigen?

"Die totale Gentrifizierung hat bis jetzt nicht stattgefunden"

In andere Stüberl geht Ani übrigens nicht mehr. "Zu negativ" sei dort die Stimmung. "Da hängen die Leute nur rum, schimpfen und jammern über Gott und die Welt und über Sechzig. Es gibt keinen Verein, den die Fans so hassen und trotzdem dabeibleiben." Beim Bummel durch die Feldmüllersiedlung, wo die kleinen Herbergshäuser der Tagelöhner und Handwerker des 19. Jahrhunderts stehen, erzählt Ani, wie seine Tante die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat, als sie, die Schwabingerin, erfuhr, dass er nach Giesing ziehen werde. In dieses Grattlerviertel - "wie kannst du nur!" Er konnte, auch wenn Ani selbst den Stadtteil in den ersten Jahren als grau und öde empfand. Damals sagte er sich: "Mei, das ist halt Giesing. Da passiert nichts mehr. Die anderen Stadtteile haben Giesing abgehängt."

Aber das hat sich geändert, neue Wohnungen sind gebaut worden, in die junge Familien einziehen, "die nicht gerade an der Armutsgrenze leben". Dennoch: "Die totale Gentrifizierung hat bis jetzt nicht stattgefunden, auch wenn die Mieten gestiegen sind." Noch sieht man alte Menschen auf der Straße, deren Kleidung verrät, dass sie sparen müssen; noch sind die Luxussanierer nicht über alle Wohnungen hergefallen, auch wenn die Verlockung steigt; noch gibt es ein paar Boazn und die dazu gehörenden Trinker, denn die, sagt Ani, sterben nie. "Bier hält fit."

Vor der Tela-Post, wo eine Steinsäule an die 61 Bürger aus Ober- und Untergiesing erinnert, die im Revolutionsjahr 1919 von den Freikorps ermordet wurden, fragen zwei Polizisten, ob er, Ani, der Herr Koch sei. Offenbar sind die Beamten nicht vertraut mit den großen Krimiautoren ihres Reviers. Weil Ani glaubhaft versichern kann, nicht der Herr Koch zu sein, und weil dieser sich auch sonst nicht blicken lässt, kontrollieren die Polizisten ersatzweise einen am Boden sitzenden Bettler.

Derweil präsentiert Ani die hier verlaufende Tegernseer Landstraße wie ein Zirkusdirektor, der eine lustige Clownsnummer ankündigt: "Das ist unser Prachtboulevard, die Champs-Elysées von Obergiesing. Die kannst du in der Pfeife rauchen." Warum denn das? Weil ihr ohnehin sehr herber Charme vor die Hunde geht. Die kleinen Läden verschwinden, dort, wo einmal ein Bäcker war, ist jetzt ein Backwarendiscounter, und wo es einst Obst und Gemüse gab, ist ein Handy-Shop.

Doch nein, Ani ist keiner, der den alten Zeiten sehnsuchtsvoll hinterher hinge. Früher war nicht alles besser, nicht mal in Obergiesing. Gut, ein paar diskutable Kneipen sind verschwunden, der "Schwarzen Katz" zum Beispiel trauert Ani schon ein wenig nach. Das war eine Stripbar in der Zugspitzstraße, in der wenig los war, aber trotzdem "hat die Wirtin das eisern durchzogen". Aber dafür sind ein paar nette Lokale hinzugekommen, deren Wirte schon bei der Namensgebung eine ungeheuere Kreativität entfalteten: das "Riffraff" oder das "Attentat Griechischer Salat". Und jetzt, fährt Ani fort, sieht man auch wieder Kinder, die habe es früher so gut wie gar nicht gegeben. "Das sind schon positive Veränderungen, das bringt wieder Leben ins Viertel, und deswegen finde ich es auch gut, dass die Sechzger hier wieder spielen."

Wo aber sind die Kinder? Im Augenblick sind keine zu sehen, jedenfalls nicht auf dem ehemaligen Agfa-Gelände hinter dem porzellanweißen Riegel des "Motel One", der als urbaner Blickfang die Nachfolge des Agfa-Turms angetreten hat, der am 17. Februar 2008 unter dem Hallo von 15 000 Abbruchbummlern weggesprengt wurde. Auf dem Gelände, wo zur Blütezeit der Firma rund 6000 Mitarbeiter Kameras zusammenbastelten, stehen jetzt lang gestreckte Wohnblöcke, die dem strengen Diktat schnurgerader Linien und rechter Winkel unterworfen sind. Auf eine Fassade hat jemand "fuck yuppies" gesprüht, ansonsten gibt es zu dieser Tageszeit keine Lebenszeichen. Es ist, als hätte die Polizei eine Ausgangssperre verhängt. Nein, stimmt nicht, Friedrich Ani weiß es besser: "Die Eltern sind jetzt in der Arbeit, weil die Wohnungen bezahlt werden müssen, und die Kinder sind in der Kita."

Gesprächsbedarf

Für Löwenfans ist diese Veranstaltung eher nicht gedacht, zu der die Stadt rund 12 000 Haushalte im Umgriff des Stadions an der Grünwalder Straße schriftlich eingeladen hat. Denn wer ein echter Blauer ist, der wird wenig einzuwenden haben gegen die Rückkehr der Sechziger in ihre alte Heimat. Der Informationsabend, der für Montag, 17. Juli, Beginn 19 Uhr, in der Sporthalle an der Säbener Straße angesetzt ist, soll laut Referat für Bildung und Sport den Anwohnern die Möglichkeit geben, ihre Fragen, Sorgen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Spielbetrieb der Fußball-Regionalliga vorzubringen, bevor der TSV 1860 am Freitag, 21. Juli, sein erstes Heimspiel im "Grünwalder" austrägt. Deshalb ist die Veranstaltung auch den Münchnern vorbehalten, die in der Nachbarschaft des Stadions wohnen. Sie müssen sich am Einlass per Einladung und Pass ausweisen. Das sei eine reine Vorsichtsmaßnahme, heißt es aus dem Sportreferat, bei nur 970 Plätzen in der Halle scheint diese durchaus angeraten. Bei der Stadt setzt man auf Erfahrungswerte: Mehr als zehn Prozent der eingeladenen Bürger kämen nicht zu solchen Veranstaltungen - im Normalfall. Außerdem sei die Halle die größte, die es in dieser Gegend gebe. Man wolle den Bürgern die Gelegenheit geben, ihre Fragen zu stellen. Vertreter der Stadt, des TSV 1860, der Bezirksausschüsse, der Polizei und der Verkehrsbetriebe erläutern Sachstand und Planungen für den Spielbetrieb. kg

Ani verabschiedet sich. Der Schreibtisch wartet, wo er in die Welten seiner Romanfiguren eintaucht, die in seinem Kopf wabern wie düstere Dämonen. Dann verschwindet die Welt da draußen, Tony's Stüberl, die Obergiesinger Champs-Elysées, die Neubauten auf dem Agfa-Areal. Werden die Väter, die von sonstwo hierhergezogen sind, mit ihren Söhnen zu den viertklassigen Löwen ins Grünwalder Stadion gehen, so wie das Väter in den alten Mietskasernen taten, wo man als Löwe auf die Welt kam? Dort, in den Arbeitermilieus, war es fast selbstverständlich, ein Blauer zu sein. In den schicken Neubaugebieten wäre es mutig: Stets dem Spott der anderen, die immer gewinnen, ausgesetzt und dauernd auf der Misserfolgsspur - ein hartes Leben. Aber so ist Obergiesing.

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