Obergiesing:Ein Leben für Freiheit und Demokratie

Obergiesing: Ungeduld kann auch eine Tugend sein: Inge Hügenell.

Ungeduld kann auch eine Tugend sein: Inge Hügenell.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

An diesem Dienstag nimmt Inge Hügenell, mit 89 Jahren derzeit Münchens ältestes Mitglied eines Bezirksausschusses, letztmals an der Gremiumssitzung in Obergiesing-Fasangarten teil

Von Hubert Grundner, Obergiesing

"Nein", sagt Inge Hügenell, "Geduld ist nicht unbedingt eine Tugend von mir." Ein kleiner Seufzer begleitet dieses Geständnis: Noch immer leidet die SPD-Politikerin unter den Folgen eines Beckenbruchs, den sie vergangenes Jahr erlitten hat. Passiert ist das Malheur in ihrer Wohnung an der Wieskirchstraße, wo sie 60 Jahre gelebt hat. "Da wollte ich nicht für viel Geld raus", sagt Hügenell im Rückblick. Doch weil sie nach mehreren Operationen keine Treppen mehr steigen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich erst nach einem Kurzzeitpflegeplatz und schließlich nach einer dauerhaften Unterkunft umzusehen. Jetzt wohnt sie im Münchenstift-Heim an der Tauernstraße.

Wer die 89-Jährige dort besucht, trifft eine hellwache, bestens informierte Person. Und noch immer ist eine erstaunliche Energie spürbar, die sie antreibt: So wie es ihr derzeit gar nicht schnell genug gehen kann mit ihrer Genesung, so hat sie sich vermutlich schon als junge Frau ungeduldig und voller Idealismus erst in ihre Arbeit und später in die Politik gestürzt - aus der sich die Sozialdemokratin jetzt schweren Herzens verabschiedet. An diesem Dienstag, 10. Mai, wird Inge Hügenell, Münchens augenblicklich ältestes Mitglied eines Bezirksausschusses (BA), letztmals an der Sitzung der Stadtteilpolitiker von Obergiesing-Fasangarten teilnehmen.

Mit den Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung und vor allem mit dem Widerstand gegen das Nazi-Regime war Hügenell von Kindesbeinen an vertraut. Die Eltern waren Baltendeutsche aus Lettland, der Vater wurde gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs von Russen gefangen genommen und in Sibirien interniert. Erst vier Jahre später gelang ihm die Flucht zurück nach Liebau, wo er 1918 Inges Mutter heiratete. Doch das Glück der frisch Vermählten sollte nur kurz währen, die deutschstämmige Bevölkerung wurde aus Lettland vertrieben. Die Eltern reisten also zwangsweise ins Deutsche Reich aus, wo der Vater erneut zum Militär eingezogen wurde und anschließend in verschiedenen Gefangenenlagern festgehalten wurde. Ihre Mutter, erinnert sich Inge Hügenell, sei dabei dem Vater stets hinterhergereist. Der habe dann später zum Beispiel erzählt, wie er während der Internierung in Erdhöhlen lebte und oft nur Kartoffelschalen zu essen bekam. Nachdem die Wirren des Ersten Weltkrieges überstanden waren, fand auch die Odyssee der Eltern ein Ende, sie ließen sich schließlich in München nieder.

Hier kam dann am 10. März 1927 im Haus an der Rosenheimer Straße 136 Inge Hügenell zur Welt. Die Kellerbehausung in der einstigen Durach-Sauerkrautfabrik hat sie noch heute in schlechter Erinnerung, wenigstens konnte die Familie bald nach Obersendling in die Nähe des Ratzingerplatzes umziehen. Nun war zwar der Vater glücklich den Schlachtfeldern des Kriegs entkommen, das Leben in München aber war für den Bäcker und Konditor sowie seine Familie deshalb noch lange kein Spaß. Ihr Vater war nicht in der NSDAP, die Tochter Inge durfte deshalb auch keine höhere Schule besuchen. Noch schlimmer aber: In der "Hauptstadt der Bewegung" konnte jedes falsche Wort, jede falsche Geste lebensgefährlich werden. "Wir haben immer nur Angst gehabt", erinnert sich Inge Hügenell, zumal damals auch noch ein besonders scharfer Nazi im selben Haus lebte. Zugleich aber fand sie in ihrem Vater ein großes Vorbild: Obwohl er selbst Hunger und Zwangsarbeit erleiden musste, galt er Freunden und Familie als Mensch, "der immer wusste, wie man anderen helfen kann". Solidarität, so darf man Inge Hügenell wohl verstehen, war für einfache Leute der oft einzige Schutz gegen die mörderische Willkür der Nationalsozialisten.

So war es bestimmt alles andere als Zufall, dass sie nach einer kaufmännischen Lehre und anschließender Anstellung bei Siemens 1946 als Sekretärin zum Bayerischen Gewerkschaftsbund wechselte, für den sie bis 1972 an der Landwehrstraße arbeitete. Sie folgte damit einer Bitte von Gustav Schiefer, der nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich am Wiederaufbau der Gewerkschaften beteiligt war. Mit dieser beruflichen Entscheidung fand indirekt für sie auch eine private Weichenstellung statt: Als 1950 in München der Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes tagte, lernte sie dort ihren künftigen Ehemann Richard kennen. Der Modellschreiner war als Delegierter aus Rheinland-Pfalz nach Bayern gekommen - und blieb. Noch im gleichen Jahr wurde geheiratet, etwas später bezog das Paar die Wohnung an der Wieskirchstraße. 1953, 1955 und 1963 wurden dann die Kinder Dieter, Ursula und Ingrid geboren. Als sie ihren Richard heiratete, so erinnert sich Inge Hügenell, habe es in München niemand sonst mit diesem Familiennamen gegeben. "Heute gibt's Hügenells wie Sand am Meer", lacht sie. Auch wenn das etwas übertrieben sein dürfte: Sehr viele Familienmitglieder sind über Giesing hinaus bekannt wegen ihres politischen Engagements für die SPD. Wie hätte es auch anders sein können bei dieser Mutter?

1960 tritt Inge Hügenell bei den Kommunalwahlen an und zieht für die Sozialdemokraten in den Bezirksausschuss 17 ein. Zwei Amtsperioden lernt sie im Gremium die Lokalpolitik von der Pike auf kennen, ehe der nächste Karrieresprung ansteht: Im Olympiajahr 1972 wählen sie die Münchner in den Stadtrat, dem sie dann bis 1996 angehört. Doch damit ist noch nicht Schluss mit der Politik: Schon 2002 gehört sie wieder dem BA 17 an - bis jetzt, bis zur Sitzung an diesem Dienstag.

Als Kind und Jugendliche, die noch Deutschlands hässliche Nazi-Fratze gesehen hat, erlebte Inge Hügenell mit, wie hart Demokratie und Menschenrechte erst wieder erkämpft werden mussten. Ein Kampf, der jeden Einsatz wert war und ist und der möglicherweise auch nie endet. Umso mehr fürchtet sie, dass diese Errungenschaften erneut verloren gehen könnten. Zumindest verspüre sie eine gewisse Angst, wenn sie sehe, welchen Zulauf zum Beispiel fremdenfeindliche und rechtspopulistische Phrasendrescher derzeit hätten. Für die Leute, die glauben, es sich in der Zuschauerrolle bequem machen zu können oder bestenfalls noch das politische Personal beschimpfen, hat Inge Hügenell eine einfache Botschaft: "Leute, geht raus und macht selbst etwas!" Das gilt insbesondere für die, die sagen, dafür hätten sie keine Zeit. Eine Ausrede, die die Sozialdemokratin während 89 Jahren für sich noch nie hat gelten lassen.

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