Obdachlosigkeit in München:"Viele wollen bleiben, wo sie sind"

Eiszeit in München: Unter den zweistelligen Minustemperaturen leiden vor allem Obdachlose. Dabei könnten sie einen warmen Schlafsack bekommen - doch viele Betroffene wollen das gar nicht. Unterwegs mit Helfern, die sich um die Menschen auf der Straße kümmern.

Patrick Pelster

Auf einmal sind sie da. Schatten lösen sich aus der Dunkelheit, als der Kleinbus um die Ecke biegt. Fünf Männer und eine Frau treten in das trübe Licht unter den Arkaden am Städtischen Hochhaus. Ihre Gesichter verschwinden unter dicken Mützen, die sie vor dem eisigen Wind schützen.

Obdachloser in München

Viele Decken, heißer Tee: Ein Obdachloser trotzt in dieser Woche den sibirischen Temperaturen.

(Foto: dpa)

Als sich die Schiebetür an dem Bus öffnet, reichen ihnen Erich und Anna Brote, Tee und Kleidung. Die ehrenamtlichen Helfer geben ihnen die Hände, freundliche Worte werden gewechselt wie bei alten Bekannten.

Es ist kurz nach neun Uhr. Der Bus, den man auf der Straße als "Möwe Jonathan" kennt, hält an jedem Abend zur gleichen Zeit an der Stelle am Unteren Anger. Wer hierher kommt, hat oft kein Zuhause mehr - so wie Sven und Peter.

Während sich die meisten Münchner bei dieser Eiseskälte in ihre Wohnungen zurückgezogen haben, stehen die beiden an der Straßenecke und nippen am Früchtetee. Die Männer, um die 40 oder 50 Jahre alt, sind obdachlos. Nachts schlafen sie draußen, auch heute, obwohl die Temperatur auf minus 15 Grad gesunken ist.

Einen Schlafsack, den Anna anbietet, schlägt Sven aus. "Decken hab ich genug, das reicht mir aus", sagt er. Mit den lockigen blonden Haaren, der braunen Weste und dem dunklen Mantel wirkt Sven nicht unbedingt so, als würde er "Platte machen". Doch im März sind es fünf Jahre, sagt er. Eines Tages sei er "einfach ausgestiegen" aus seinem alten Leben.

Die Kälte übersteht Sven in öffentlichen Gebäuden. Er setzt sich dann in Buchhandlungen oder in Essensausgaben. Auch Peter, grauer Bart, müde Augen, schwarze Jacke, bleibt nachts draußen - so hat er die letzten vier Jahre verbracht, dort sei er "individuell". Wo Peter heute ein Lager gefunden hat? "In einer Tiefgarage, wo genau ist mein Geheimnis", erzählt er.

Dabei könnten Sven und Peter unterkommen. München hat ein engmaschiges Netz an sozialen Einrichtungen: Heime für Wohnungslose wie an der Pilgersheimer Straße oder das Frauenobdach "Karla 51" bieten auch in den Wintermonaten genügend Plätze, erklärt ein Sprecher des Sozialreferats. Für die Menschen, die trotzdem auf der Straße bleiben, gibt es Hilfsangebote wie die "Möwe Jonathan".

Walter Lorenz begann vor fast 30 Jahren mit den ersten nächtlichen Tee-Ausfahrten zu seinen "Freunden auf der Straße", wie er die Leute liebevoll nennt. Heute übernehmen die mehr als 30 ehrenamtlichen Helfer des Trägervereins "Schwestern und Brüder vom heiligen Benedikt Labre" die meisten Fahrten. Neben Essen und Trinken verteilen sie wegen der Kältewelle außerdem kostenlos Kleidung, Handschuhe, Socken, Mützen, Decken und Schlafsäcke auf den Straßen von München.

"Viele wollen bleiben, wo sie sind"

Bei den zweistelligen Minusgraden gab es auch in Deutschland bereits mehrere Kältetote - besonders dramatisch ist die Lage in Osteuropa, wo Dutzende Menschen täglich erfrieren. In München starb zuletzt ein Obdachloser in einer Höhle am Isarhochufer im Dezember 2009.

So ganz genau weiß niemand, wie groß die aktuelle Gefahr in München ist. "Wie viele Menschen im Moment tatsächlich draußen übernachten, ist schwer zu schätzen", sagt Franz Herzog, Leiter der Teestube "komm". Die Einrichtung des Evangelischen Hilfswerks bietet Obdachlosen von 14 bis 20 Uhr einen warmen Aufenthalt, wo sie essen und sich waschen können.

Herzogs Streetworker gehen täglich zu Orten im Stadtgebiet, wo sich Obdachlose aufhalten: in Hauseinfahrten, auf Parkbänken, unter den Isarbrücken. Bei dem kalten Wetter sind die vier Zweiergruppen verstärkt unterwegs. Ihr Ziel: Mit den Obdachlosen sprechen und sie in die Teestube einladen.

Die Reaktionen sind unterschiedlich. "Oft freuen sie sich über den Besuch, manche kommen mit. Aber viele wollen bleiben, wo sie sind", sagt Franz Herzog. Den Streetworkern bleibt dann meist nur einzuschätzen, ob die Obdachlosen die Nacht im Freien überstehen können.

Im Notfall holen sie die Polizei oder den Notarzt - etwa wenn Betroffene stark alkoholisiert, gesundheitlich angeschlagen oder psychisch krank sind. "Ohne eine akute Selbstgefährdung können wir nichts tun", sagt Herzog. In den vergangenen Jahren habe es aber nur wenige solcher Fälle gegeben. "Die Sorge, dass wir nicht jedem helfen können, bleibt."

Die Menschen um die "Möwe Jonathan" packen nach einer halben Stunde ihre Taschen. Peter lässt sich etwas Tee in eine leere Fanta-Flasche füllen. Sven lehnt den Schlafsack, den Anna ihm anbietet, ein zweites Mal dankend ab. Dann wechseln sie noch ein paar freundliche Worte, drücken einander die Hände und wünschen sich alles Gute für die bevorstehende Nacht.

Als der Bus mit Erich am Steuer das Eck am Städtischen Hochhaus verlässt, liegt noch an ein halbes Dutzend Stationen vor ihnen. Sven, Peter und die anderen sind längst wieder in der eisigen Dunkelheit verschwunden.

Ein Interview mit Franz Herzog von der Teestube "komm" lesen Sie hier.

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