Obdachlosigkeit in München:"Irgendwann muss ich da raus"

Obdachlosigkeit in München: Nein, als Außenseiter sieht sich Herbert F. keineswegs. Er sei "durch die Gesellschaft gezwungen" zu seinem Waldleben gekommen.

Nein, als Außenseiter sieht sich Herbert F. keineswegs. Er sei "durch die Gesellschaft gezwungen" zu seinem Waldleben gekommen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Seit mehr als fünf Jahren haust Herbert F., 77, im Wald. Als Außenseiter sieht er sich trotzdem nicht. Noch ist F. erstaunlich fit, aber was, wenn das nicht mehr so ist? Seine Geschichte zeigt, wie schnell man durch das soziale Netz rutschen kann.

Von Gudrun Passarge

Die schmale Mondsichel versteckt sich hinter Wolkenfetzen, Nebel wabert über die Wiesen und Felder. Ein Mann mit einer Taschenlampe sucht unbeirrt seinen Weg durch den Wald. "Hier irgendwo muss es sein", verkündet er. Äste knacksen, nasses Laub klebt an den Schuhen fest, unangenehme Kälte kriecht unter die Jacken. "Hallo, wo sind Sie denn? Wir kommen in friedlicher Absicht", ruft der Mann mit der Taschenlampe. Ein leises Brummen ist die Antwort. Tatsächlich. Da liegt ein Mann auf einem Lager unter Bäumen. Der Mann mit der Taschenlampe ist ein aufmerksamer Spaziergänger, der das Freiluftbett entdeckt hat. Aus seiner Tasche zieht er eine Kanne Tee "mit einem kleinen Schuss Rum", und Kekse hat er auch dabei. Herbert F. blinzelt ein wenig, er hatte schon geschlafen. Aber er trinkt den Tee mit den Besuchern, knabbert am Keks und erzählt, freundlich, mit wohlgesetzten Worten. Dass er 77 Jahre alt ist und seit fünf Jahren oder noch länger im Wald wohnt.

Herbert F., er heißt in Wirklichkeit anders, ist einverstanden, sich am nächsten Tag in einem Innenstadtcafé zu treffen, da lässt es sich angenehmer plaudern. Er ist zehn Minuten früher da. Langsam schält er sich aus seiner Jacke. Darunter trägt er ein Hemd, eine Lederweste und eine lange Lederhose mit Hirschhornknöpfen. Warum er im Wald gelandet ist? Das ist eine längere Geschichte, die zum Teil etwas damit zu tun hat, wie leicht man in unserer Gesellschaft durch das soziale Netz rutschen kann.

Reisen in viele Teile der Welt

Es ist aber auch ein Lebensweg, der viel mit seinem Drang nach Unabhängigkeit, und auch mit seinem Wunsch zu tun hat, die Welt kennenzulernen. Dabei ist er schon als Kind viel herumgekommen. Geboren in Riga, eingeschult in einer deutschen Schule in Polen, führte ihn die Flucht seiner Familie nach dem Krieg und dem Tod des Vaters nach Bozen. "Da habe ich etwas Italienisch gelernt, denn Deutsch sprechen war damals streng verboten." Die Mutter heiratete noch einmal, einen Österreicher, und zog mit Sohn und Mann nach Wien. Dort hat Herbert F. eine Malerlehre gemacht.

Mit 18 Jahren ist er zum ersten Mal nach München gekommen. Doch schon bald lockte Kanada, wo Arbeitskräfte gesucht wurden. Er ging in die Gegend bei Quebec, "Französisch kann ich ganz gut". Kanada gefiel ihm, "es ist das schönste und weiteste Land, das es gibt. Im Winter gibt es Eis und Schnee, im Sommer ist es richtig warm." Und die Kanadierinnen gefielen ihm auch, eine ganz besonders. Er heiratete, doch die Ehe ging in die Brüche. "Da bin ich wieder zurück nach Europa", nach sieben Jahren Kanada. Aus heutiger Sicht nennt er das "einen großen Fehler". Was dann folgte, klingt wie das Leben eines Globetrotters. Weinernten in Frankreich, Arbeiten in Holland, der Schweiz, in Belgien, Reisen in viele Teile der Welt. "Das war mein Hobby, andere Leute haben sich ein Auto gekauft, oder ein Haus. Ich habe all mein Geld bei Reisen verplempert." Kurz hat er im Hinterkopf, dass er deswegen heute nur eine Rente von circa 430 Euro bekommt, weil er in vielen Ländern auf eigene Rechnung gearbeitet hat oder zu kurz dort gewesen ist, um Rentenansprüche zu haben. Aber dann stellt er doch auf seine sachliche Art fest: "Heute finde ich es gar nicht so schlecht, es war eine schöne Zeit." Eine, an die er sich gerne zurückerinnert.

"Ich hätte eine Familie gründen sollen"

Doch irgendwann wurde auch sein Leben ruhiger. Zuletzt ließ er sich wieder in München nieder. "Ich hätte eine Familie gründen sollen", sagt er mit Bedauern in der Stimme. Hat er aber nicht. Und dann kam der Tag, da er Rentner wurde. Von da an hatte er plötzlich mit der Miete zu kämpfen. Seine Wohnung in der Innenstadt kostete mehr als seine Rente ausmachte. Er verkaufte die goldene Uhr und was er sonst noch an Werten besaß, so verschaffte er sich ein wenig Luft. Aber irgendwann musste er raus. Nach einigen Umwegen fand er Unterschlupf bei einem Freund, der ihm seine Gartenlaube zur Verfügung stellte. Herbert F. revanchierte sich und hielt den Garten tipptopp. "Das war die schönste Zeit." Sie währte nur kurz, denn die Kleingärten mussten einem Neubauprojekt Platz machen. "Wie ich dort wegmusste, ging es bergab mit mir."

Der Wald ist Luxus - im Vergleich zu den Alternativen

Sein Weg führte ihn fast direkt in den Wald. Beim Wohnungsamt hatten sie ihm zuvor wenig Hoffnung gemacht, "sie haben gesagt, dass 12 000 Leute vor mir auf der Liste stehen, darunter Frauen und Kinder und Kranke". Die kämen natürlich zuerst dran, da hat der 77-Jährige vollstes Verständnis. "Es gibt so viele Menschen, denen es schlechter geht als mir." Herbert F. schaute sich zwar noch die Notunterkunft in der Pilgersheimer Straße an, aber dann war seine Entscheidung schnell gefällt. Er habe dort "Schreierei und Krawall" erlebt, "die eine Hälfte der Männer sind schwere Alkoholiker, die andere ist psychisch krank." Dann doch lieber der Wald. "Ich bin sehr mit der Natur verbunden. Ich habe Schnee und Regen, gut, aber das ist alles sauber. Und ich habe meine Ruhe", sagt er.

Fast schon trotzig konstatiert er, im Vergleich mit einer Massenunterkunft in einem Heim sei doch der Wald "allererste Klasse. Das ist Luxus". Er hat sich mit dem Leben arrangiert, verkriecht sich bei eisigen Temperaturen in drei Schlafsäcken und breitet eine wasserdichte Plane über sein Waldbett. Seine Kleider verstaut er in Plastiksäcken, damit sie trocken bleiben. Gegen den kalten Ostwind schützt ihn ein kleiner geflochtener Zaun aus Ästen. "Das einzige Problem ist die Hygiene", stellt er nüchtern fest, zumindest im Winter, denn im Sommer springt er gerne in einen Badesee. Zurzeit geht er doch lieber ins Michaelibad oder er nimmt mal ein Vollbad im Müllerschen Volksbad, "das kostet vier Euro". Braucht er saubere Wäsche, geht er in die Wäscherei - oder er macht gleich einen Einkaufsbummel auf dem Flohmarkt.

Mit dem Fahrrad zur Bibliothek

Tagsüber ist er viel mit dem Fahrrad unterwegs. Er besucht zum Beispiel Bibliotheken oder Büchereien. Welche? "Na ja, die große in der Ludwigstraße, die Staatsbibliothek." An manchen Tagen geht er zum Schachspielen in den Park. Von Puschkin bis Goethe habe er schon alles gelesen, erzählt er. Im Moment zählen Geschichtsbücher zu seiner Lieblingsliteratur, "denn aus der Geschichte können Sie das meiste lernen, es wiederholt sich nämlich alles". Begeistert erzählt er vom Bücherkasten am Nordbad, wo man sich kostenlos Bücher ausleihen könne.

Allerdings lasse die Auswahl manchmal etwas zu wünschen übrig. Das Werk über Nofretete sei zwar nicht schlecht gewesen, nur mit zu vielen Liebesgeschichten. Heute hat er zum Kaffee-Termin ein Uralt-Büchlein mitgebracht. "Die Rebellin" lautet der Titel auf einem Cover, das ausschaut wie ein Vorläufer von "Vom Winde verweht". Ja, gibt Herbert F. zu, das sei kein reines Geschichtsbuch, was ihm auch missfalle. "Aber die Fakten darin, die stimmen alle." Wann war doch gleich der amerikanische Unabhängigkeitskrieg? "1775" kommt die Antwort, ohne dass er eine Sekunde nachdenken muss.

"Durch die Gesellschaft gezwungen"

Das Gespräch beim Kaffee kreist immer wieder um den Wald. Wie ist es, da zu wohnen? Wenn Füchse zu Besuch kommen und die Vögel einen wecken? "Ich schlafe tief und gesund, ich wüsste nicht, warum ich in so ein Lager gehen sollte", sagt Herbert F.. Als Kind habe er eine Zeit im Lager verbracht, "seitdem habe ich einen Horror davor". Dabei könne er sich durchaus vorstellen, sein Blätterdach gegen ein Ziegeldach zu tauschen. Schon allein deshalb, weil er dann für seine wenigen Besitztümer wieder einen festen Platz zum Einräumen hätte.

Nein, als Außenseiter sieht er sich keineswegs - trotz seiner Wohnsituation. Er sei "durch die Gesellschaft gezwungen" zu seinem Waldleben gekommen. "Es liegt mir absolut nicht, betteln zu gehen. Deswegen bin ich Behörden immer aus dem Weg gegangen." Man könnte es auch Scham nennen, räumt er ein. Seine Ansprüche sind bescheiden. Alles, was er möchte, wäre "ein kleines Loch, von mir aus auch im Keller", in dem er frei und selbstbestimmt leben könne. "Ich bin ja Maler, ich könnte Fenster und Türen lackieren oder Wände streichen, um mich zu revanchieren." Denn schuldig bleiben möchte er niemandem etwas. "So arm bin ich ja auch nicht", sagt er, als der freundliche Spaziergänger ihm zum Tee mit Rum ein Marmeladenglas voll mit Zuckerwürfeln schenken möchte.

Noch ist er erstaunlich fit

Es ist ein einsamer Kampf, den der 77-Jährige mit sich selbst führt. Doch seine Tage im Wald sind vermutlich gezählt. " Irgendwann muss ich da raus", sagt er. Allein schon, weil er das Alter fürchtet. Noch ist er erstaunlich fit, aber was, wenn das nicht mehr so ist? Herbert F. hat sich mittlerweile auf den Weg durch die Instanzen gemacht, penibel und äußerst korrekt ist er die Sache angegangen. Er ist vom Wohnungsamt zum Sozialamt geschickt worden, von da zu seiner Bank, um nachzuweisen, wie hoch seine Rente ist. Die Bankauszüge hat er mitgebracht. Es sind nicht viele Posten auf seinem Auszug. Die Rente, dann 25 Euro, die er monatlich auf ein Sparbuch überweist ("als Puffer für Notlagen"), die monatliche Kontoführungsgebühr wurde abgezogen ebenso wie die monatlichen 6,80 Euro für eine Haftpflichtversicherung. "Die hat mir die Dame bei der Bank empfohlen und das ist ja auch ganz vernünftig", führt er aus. Er könnte ja mal einen Unfall haben und beispielsweise ein Auto beschädigen, "das könnte ich mit meinem Einkommen gar nicht bezahlen".

Mit diesem Gefühl von Sicherheit schwingt er sich wieder auf sein Rad und fährt in den Wald. Wer weiß, wie lange noch.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: