Obdachlosigkeit:Obdachlose Frauen: Das Märchen vom Campen

Jannette Hauser verheimlicht ihren drei Kindern seit zwei Jahren, dass sie keine Wohnung mehr hat.

Von Milena Hassenkamp

Was Jannette Hauser (Name geändert) immer dabei hat: Handspiegel, Desinfektionsspray und ein französisches Wörterbuch. Sie lernt die Sprache, die ihre Eltern gesprochen haben, bei denen sie aber nicht aufgewachsen ist. Immer wieder geht sie die französischen Vokabeln durch. Sie will in Frankreich leben, sagt sie, irgendwann. Seit ihre Eltern gestorben sind - Hauser war damals drei Jahre alt -, hat sie nie länger als zwei Jahre an einem Ort verbracht. "Das halte ich nicht aus", sagt sie.

Die 40-Jährige hat sich mit ihrem Kaffee auf die Treppenstufen in der Einfahrt zur Essensausgabe der Obdachlosenhilfe von Sankt Bonifaz gesetzt. Der beige Trenchcoat und die blaue Jeans sind sauber, die beiden Taschen, die sie bei sich trägt, könnten mit Einkäufen gefüllt sein. Ihre schwarzen Haare trägt Hauser zu einem Zopf gebunden. Kramt sie in ihren Taschen, fällt mal eine graue Strähne ins Gesicht. Ihren Kindern sagt sie, sie sei campen. In Wahrheit schläft sie seit fast zwei Jahren auf der Straße.

Mit anderen Obdachlosen will sie nichts zu tun haben. Wenn sie spricht, drückt sie sich gewählt aus. Dass sie seit fast zwei Jahren kein Obdach hat, verraten höchstens ihre braunen Fingernägel, mit denen sie nervös auf dem Kaffeebecher trommelt. Manchmal, erzählt ein Mitarbeiter der Essensausgabe, tauche die Frau auf und rieche nach Alkohol. An diesem Tag aber ist Jannette Hauser ganz klar, auch wenn es Lücken in ihrer Geschichte gibt.

Hauser berichtet, sie habe nie eine richtige Familie gehabt. Ihre Kindheit und Jugend verbringt die gebürtige Deutsche mit den französischen Eltern in verschiedenen Kinderheimen und Internaten in Deutschland und den USA. Sie studiert Medizin und wird Ärztin, bekommt drei Kinder, lässt sich scheiden, zwei Mal.

2010 hat sie dann einen Unfall, der ihr Leben verändert, wie sie sagt. Was genau passierte, weiß sie nicht mehr. Nur das: Sie habe arbeitsbedingt viel Stress gehabt und durch eine falsche Investition viel Geld verloren. Durch einen Schlag auf den Kopf erleidet sie eine Amnesie. Deshalb bringe sie heute noch vieles durcheinander.

Keine Anschrift, keine staatliche Unterstützung

Nach dem Unfall kann sie nicht mehr als Ärztin arbeiten: Depressionen und Angst bestimmen ihren Alltag. Die Kinder schickt Hauser zu ihrem Ex-Mann. Für drei Jahre geht sie zurück in die USA - eine Zeit, an die sie sich kaum erinnert. Als sie 2014 wieder zurück nach München zieht, findet sie lange keinen Job. Anfangs bezieht sie noch Unterstützung vom Jobcenter und schreibt Bewerbungen. 2015 lässt sie das bleiben. Sie gibt einfach auf. Sie verliert ihre Wohnung, zieht durch mehrere Unterkünfte für wohnungslose Frauen.

Schließlich beginnt das, was Jannette Hauser "Camping" nennt. Handy und Laptop hat sie verkauft, eine Bankkarte besitzt sie nicht mehr - weil sie keine Anschrift hat. Die Erwerbsminderungsrente, die ihr zustehen würde, kann sie deshalb nicht beziehen. Manchmal helfen ihr Freunde aus. Jannette Hauser langweilt sich nicht. Morgens trinkt sie Kaffee in Sankt Bonifaz, danach geht sie meistens in die Stadtbücherei und liest. Vor allem interessiert sie sich für Fachbücher zum Thema Amnesie. Romane mag sie nicht mehr.

Vor Kurzem hat sie eine Bewerbung abgegeben, für eine Stelle in einer Klinik in Bogenhausen. Sie will wieder einen Job haben, eine Wohnung, ihre Kinder. Sie will in der Klinik vorbeischauen und nachfragen, ob ihre Unterlagen angekommen sind. Denn erreichen könne man sie ja leider nicht, ohne Handy.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: