NS-Zwangsarbeiterlager:Wo der Hunger nie aufhörte

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Anna Lipstowa vor einer der Baracken. Sie lebte als Kind in dem Zwangsarbeiterlager in Neuaubing. (Foto: Stephan Rumpf)

Anna Lipstowa war 13, als sie als Zwangsarbeiterin in das NS-Lager nach Neuaubing kam. Nun ist sie zurückgekehrt. Und erinnert sich vor allem an einen Satz: "Gib mir bitte ein kleines Stück Brot."

Von Jakob Wetzel

Als Anna Wladimirowna Lipstowa das letzte Mal an diesem Ort war, wuchsen hier noch keine Bäume. Es standen auch keine Kunstwerke herum, keine Baufahrzeuge, keine Wohnwägen. Woran sie sich erinnert, das sind Zäune, prügelnde Wachleute, ständiger Hunger und ein großer, freier Appellplatz. In den Baracken, wo heute Künstler ihre Ateliers haben und Handwerker ihre Werkstätten, hausten damals Zwangsarbeiter. Und sie selbst, Anna Lipstowa aus dem Dorf Dubrowka bei Brjansk in Westrussland, war eine von ihnen.

72 Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt ist Lipstowa zurück: Zum ersten Mal seit dem Krieg steht sie wieder auf dem Gelände des früheren Zwangsarbeiterlagers Neuaubing. Als sie im September 1944 hierher gebracht wurde, war sie 13 Jahre alt. Heute ist sie 86 und eine der letzten lebenden Zeitzeugen. Das Münchner NS-Dokuzentrum hat sie eingeladen, gekommen ist sie mit ihrer Tochter. Die Historiker erhoffen sich von ihr Aufschluss darüber, wie das Leben im Lager tatsächlich war.

Denn an der Ehrenbürgstraße in Neuaubing entsteht derzeit eine Außenstelle des Dokuzentrums. In einer der Baracken soll eine Ausstellung an die Vergangenheit erinnern, dazu sollen Infotafeln und Stelen aufgestellt werden. Ein Betriebskonzept sei erstellt, sagt Winfried Nerdinger, der Direktor des Dokuzentrums. Es fehlt nur noch ein Stadtratsbeschluss, damit hier an ein lange verdrängtes Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert werden kann: an die Versklavung von europaweit 13 Millionen Menschen, die etwa in der Kriegsindustrie arbeiten mussten.

Oft wurden ganze Familien verschleppt, Männer, Frauen und Kinder. Allein im Raum München waren mehr als 150 000 Zwangsarbeiter eingesperrt, an der Ehrenbürgstraße waren es etwa 1000, viele aus der Sowjetunion, aber auch Polen, Franzosen, Niederländer und Italiener. Sie mussten im etwa einen Kilometer entfernten Reichsbahn-Ausbesserungswerk Waggons reparieren.

Lipstowa lebte in einer der heute von Künstlern genutzten Baracken, gemeinsam mit ihrer Mutter Efrosinja und zwei ihrer älteren Schwestern. Die älteste Schwester leistete da bereits an einem anderen Ort in Bayern Zwangsarbeit; der Vater war 1941, zwei Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, an einer Krankheit gestorben. 1943 wurde die Familie aus Russland verschleppt. Ein Jahr später kam Lipstowa schließlich nach München.

Viel ist es nicht, woran sich die Frau erinnern kann. Von der Stadt München ist ihr nichts im Gedächtnis geblieben. Wie auch? "Ich konnte das Lager nie verlassen", sagt sie. Für sie hätten sich die Tore nur zum Marsch ins Werk der Reichsbahn geöffnet. Dort zerschnitt sie Draht, feilte Metallteile. Im Lager selbst habe sie stets Hunger gehabt, sagt sie. Mittags habe es Kastaniensuppe gegeben, ob es morgens und abends etwas zu essen gab und was, weiß sie nicht mehr. Der jüngste Gefangene sei ein fünf oder sechs Jahre altes Kind gewesen, das nicht arbeiten musste, aber dort mit seiner Familie lebte.

Lipstowa erinnert sich auch daran, dass die Wachleute die Gefangenen nach Geschlecht trennten. Wurde ein Mann in der Frauenbaracke ertappt, sei er schlimm zusammengeschlagen worden, sagt sie. Besonders brutal sei der Lagerführer gewesen. Einen der Wachleute dagegen nennt Lipstowa gutmütig: Hatte er Dienst, sei sie manchmal mit dem achtjährigen Wanja heimlich unter dem Zaun hindurch nach draußen gekrochen. Dann hätten sie in der Siedlung nebenan um Essen gebettelt. "Alle haben etwas gegeben", sagt Lipstowa, Brot und Käse. Fragen habe keiner gestellt.

Lipstowa ist nicht die einzige Zeitzeugin, die das NS-Dokuzentrum befragt hat. Seit Jahresbeginn suchen hier drei Historiker intensiv nach Zeugnissen früherer Gefangener. Fünf noch Lebende, neben Lipstowa zwei weitere Russinnen sowie zwei Italiener, haben sie bereits gefunden, dazu Kontakt zu etwa 50 Familien geknüpft, die Fotografien und Dokumente verstorbener früherer Zwangsarbeiter zur Verfügung stellten. Lipstowa aber ist die einzige, die noch an diesen Ort reisen konnte.

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Wie sehr ihnen ihre Erinnerungen helfen, werde man sehen, sagt Paul-Moritz Rabe, einer der drei Historiker. Die Frau erinnere sich eben aus der Perspektive eines damaligen Kindes. Doch die Zeitzeugin bestätigte manches, was die Historiker bislang nur vermuteten. Etwa, dass Frauen und Männer getrennt wurden. "Wir kennen ja nur die offiziellen Vorgaben", sagt Rabe. "Was vor Ort umgesetzt worden ist, muss nicht dasselbe sein." Und dass "Ostarbeiter", wie die Nazis Zwangsarbeiter aus Osteuropa nannten, die Lager gar nicht verlassen durften, hätten sie so nicht gewusst.

Bekannt sei, dass Westeuropäer aus rassistischen Gründen besser behandelt wurden; so gebe es etwa Fotografien französischer Zwangsarbeiter beim Sonntagsausflug vor Schloss Nymphenburg. Bekannt sei auch, dass Osteuropäer anfangs keinen Ausgang hatten. Doch den Dokumenten zufolge lockerte das Regime die Regeln 1943: Fortan gab es demnach Ausgang und etwas mehr zu essen. Denn die Nazis hatten Angst vor einem Aufstand der Zwangsarbeiter. Und sie brauchten deren Arbeitskraft.

Aus diesem Grund waren Verpflegung und Unterbringung besser als in einem Konzentrationslager: Das Regime wollte die Gefangenen nicht durch Arbeit umbringen, vielmehr war die deutsche Kriegsmaschinerie, in diesem Fall die Reichsbahn, auf sie angewiesen. Zwölf Stunden am Tag arbeiteten die Gefangenen im Bahn-Werk, länger als die deutschen Arbeiter. Osteuropäer wurden oft zusätzlich zu Ausbesserungsarbeiten am Lager gezwungen.

Heute ist diese Geschichte weitgehend vergessen - und das, obwohl Zwangsarbeit im Nationalsozialismus fast allgegenwärtig war. Bis 1945 gab es reichsweit mehr als 30 000 Zwangsarbeiterlager, in München mehr als 400, allein in Aubing und Neuaubing waren es zehn - darin eingesperrt insgesamt etwa 3000 Menschen, sagt Rabe. Erhalten blieb kaum etwas. Nur in Aubing stehen noch acht von ursprünglich elf Baracken; das ist bundesweit fast einzigartig. Es gibt nur noch eine weitere erhaltene Anlage in Berlin-Schöneweide.

Blick in die denkmalgeschützte Baracke 5 im ehemaligen Zwangsarbeiterlager an der Ehrenbürgstraße in Neuaubing. (Foto: Stephan Rumpf)

Umso wichtiger sei es, das Gelände als authentischen Erinnerungsort zu erhalten, sagt Nerdinger. Das Massenphänomen Zwangsarbeit sei nach 1945 völlig verdrängt worden. Noch im ersten Nürnberger Prozess sei 1946 Fritz Sauckel, der "Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz", unter anderem wegen der Zwangsarbeit zum Tode verurteilt worden; danach sei aber nie mehr die Rede davon gewesen. Entschädigungen seien erst ab 2000 gezahlt worden.

Dass das Lager an der Ehrenbürgstraße erhalten ist, liegt auch daran, dass Neuaubing lange ab vom Schuss war. Die Lager in der Stadt wurden überbaut, hier dagegen ließen sich nach wechselnder Nutzung schließlich Künstler und Handwerker nieder, die zum Erhalt beitrugen: "Sie haben viel repariert, aber wenig verändert", sagt Rabe. Mittlerweile stehe jede Baracke unter Denkmalschutz, sagt Nerdinger.

Anna Lipstowa und die anderen Zwangsarbeiter dort wurden 1945 von der US-Armee befreit. Sie hätten noch einige weitere Wochen im Lager gelebt, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrten, erinnert sich die Frau. Es war keine gute Zeit; im Juni, kurz nach der Befreiung, starb ihre Mutter. Die Verbliebenen hätten geholfen, sie am Germeringer Friedhof zu begraben, sagt Lipstowa. Bei ihrem Besuch in München habe sie nach dem Grab gesucht, sagt die Historikerin Sibylle von Tiedemann, Rabes Kollegin. Vergeblich, das Grab sei längst aufgelassen. Auf dem Friedhof erinnert nichts an die Zwangsarbeiterin.

Lipstowa hätte sich ein Erinnerungszeichen gewünscht, erzählt von Tiedemann. Kein Grab, aber vielleicht einen Stein: einen Ort auf dem Friedhof nicht nur für ihre eigene Trauer, sondern auch für das Gedenken an die Zwangsarbeiter. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Akte Lipstowa vor einigen Jahren geschlossen. Sie wurde entschädigt. Für zwei Jahre Sklavenarbeit erhielt die Frau den ermäßigten Satz für damalige Kinder, insgesamt 700 D-Mark.

Nach der Befreiung hätten sie dem nachsichtigen Wachmann ein paar Essensrationen vorbeigebracht, um sich zu bedanken, erinnert sich Anna Lipstowa. Einen deutschen Satz aber hat sie sich bis heute gemerkt: "Gib mir bitte ein kleines Stück Brot oder eine Kartoffel."

© SZ vom 27.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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