Notarzt vor Ort:Ein Foto bringt die Erinnerung zurück

Dr. Karl-Georg Kanz, 47 Jahre, Chirurg an der Uniklinik Nußbaumstraße und leitender Notarzt, hat als Medizinstudent die Bombenexplosion miterlebt.

"Als die Bombe hochging, rief ich gerade eine Freundin an. Die Telefonzelle befand sich unmittelbar hinter dem Ort des Anschlags. Zuerst dachte ich, jemand hat eine Feuerwerksrakete gezündet. Dann sah ich viele Menschen am Boden liegen, mit abgerissenen Gliedmaßen und zerfetzten Bäuchen.

In meiner Nähe stand der Mann, dessen zwei Kinder gestorben sind, und schrie um Hilfe. Dieses Bild hatte ich noch wochenlang nachts vor Augen. Ich hatte gerade das Physikum gemacht und kannte Leichen bisher nur sorgfältig präpariert aus dem Anatomiesaal.

Ein Junge lag bewusstlos auf dem Rücken. Ich drehte ihn in die stabile Seitenlage, damit er besser atmen konnte. Dann half ich der Feuerwehr, Infusionen und Verbände anzulegen.

Es hat mich belastet, dass ich mit niemanden über die Ereignisse reden konnte, ,Debriefing' nennt man das heute. Meinen Eltern sagte ich nichts, um sie nicht zu erschrecken, weil ich so nahe dran war. Und meine Freunde hätten mich für einen Wichtigtuer gehalten.

Irgendwann habe ich nicht mehr daran gedacht - bis ich 15 Jahre später Notfallkurse für die Feuerwehr hielt. Dort zeigte man mir das Foto eines jungen Mannes, der mit einer Infusion bei einem Verletzten kniet. Das war ich. Es ist mir kalt den Rücken hinuntergelaufen und ich habe wieder alles vor mir gesehen.

Als leitender Notarzt arbeite ich heute Einsatzpläne für Katastrophen aus. Es gibt nun genaue Regeln, damit Schwerverletzte sofort in die richtigen Kliniken kommen und die Krankenhäuser nicht von Leichtverletzten blockiert werden.

Selbst wenn an fünf Stellen gleichzeitig etwas passieren sollte wie unlängst in London, würde der Einsatz in München perfekt ablaufen. Ob zwischen dem damaligen Erlebnis und meiner jetzigen Tätigkeit ein direkter Zusammenhang besteht? Ich weiß es nicht."

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