Neurologische Erkrankung HMSN:"Manchmal steht mein Körper Kopf"

Neurologische Erkrankung HMSN: "Mein Geist ist wach, mein Körper ist schwach", sagt Michelle Fallier.

"Mein Geist ist wach, mein Körper ist schwach", sagt Michelle Fallier.

(Foto: Catherina Hess)

2006 ging sie noch spazieren, zwei Jahre später saß sie im Rollstuhl: Michelle Fallier leidet an der Krankheit HMSN. Trotzdem hat sie ihren Lebensmut nicht verloren.

Protokoll: Lars Langenau

"Es sind wohl meine guten Gene, dass ich jünger aussehe, als ich bin. Die schlechten Gene sind für was anders zuständig.

Dass etwas mit mir nicht stimmt, habe ich um meinen 30. Geburtstag gemerkt, vor 17 Jahren. Ich hatte einen Hund und wenn ich mit dem rausgegangen bin, stolperte ich auf einmal, immer wieder. Erst dachte ich, ich bin zu doof, die Füße zu heben. Ein Arzt nannte das Fußheberschwäche. Mit der Zeit wurden die Symptome jedoch immer schlimmer. Ich bin heftig gestürzt, auf die Knie, auf die Hände. 2006 habe ich einen anderen Arzt konsultiert und sagte: Irgendwas stimmt nicht mit mir. Ständig waren die Bänder gedehnt durch das Umknicken. Mein ganzer Körper fühlte sich instabil an.

Dann wurde ich arbeitslos. Ich war Mediengestalterin und mit diesen Symptomen bald schon gar nicht mehr richtig arbeitsfähig. Die Krankheitserscheinungen waren schon damals so stark, dass ich beide Hände gar nicht mehr richtig nutzen konnte. Doch ich leugnete das, wollte arbeiten wie jeder andere, wollte normal sein.

Einige Diagnosen hatte ich bis dahin schon gesammelt, dazu mehrere Operationen hinter mir, an beiden Händen, an einem Knie. Ich wurde an ein Gen-Labor verwiesen und untersucht. Das Ergebnis: HMSN Typ 1, ein progressiver vererbbarer Gendefekt, auch Charcot-Marie-Tooth-Syndrom genannt. Meine Mutter wurde gecheckt, sie hat den Defekt nicht. Mein Vater lebt in den USA und schloss es gleich kategorisch aus, dass seine Gene da eine Rolle spielen.

Viel hinfallen, Gleichgewichtsprobleme, Koordinationsschwierigkeiten

Der behandelnde Professor sagte, dass ich mit Einschränkungen leben und nicht daran sterben werde. Allerdings hat er nicht gesagt, welche Einschränkungen das sind. Ich habe mich dann im Netz erkundigt und dort auch den Verlauf gefunden, der meinem sehr ähnelt: Viel hinfallen, Gleichgewichtsprobleme, Koordinationsschwierigkeiten.

Wie die Multiple Sklerose hat auch meine Krankheit viele Gesichter. Ich wusste damals, dass die Krankheit progressiv ist, aber nicht, wie schnell oder langsam sie voranschreitet. Da ist der Verlauf bei jedem Betroffenen anders, bei mir ging es relativ schnell. Bei meiner Form der HMSN ist die Nervenleitgeschwindigkeit um mehr als die Hälfte verzögert, dadurch werden Muskeln stark verlangsamt angefahren und später ziehen sie sich zurück und verkümmern.

Heute habe ich allerdings wahnsinnige Spasmen in den Beinen und bin stark kälteempfindlich. Ganz schnell bekomme ich auch Druckstellen, die ich allerdings erst spüre, wenn es zu spät ist.

Immerhin hatte ich dann damals nach der Diagnose eine Erklärung für das warum, wieso, weshalb. Die Krankheit zu kennen, war auf der anderen Seite dann doch auch eine ziemlich harte Watschen: Zu wissen, welche Erscheinungen diese Krankheit mit sich bringen könnte, aber nicht zwangsläufig muss.

Binnen zwei Jahren bin ich im Rollstuhl gelandet

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Der Verlauf war dann rasant: Binnen zwei Jahren bin ich im Rollstuhl gelandet. In der Zwischenzeit Gehhilfen und Wiederherstellungsoperationen. Aber es wurde nur noch schlechter. 2008 war ich so lebensmüde, dass ich dachte, entweder Du machst was - oder Du gehst von dieser Welt. Ich wollte niemanden zur Last fallen. Meine Mutter war ihr ganzes Leben Krankenschwester, und dann sollte sie mich im Alter auch noch pflegen? Es folgte eine heftige Depression. Zwei Jahre vorher konnte ich noch laufen, dann kam der erste Rollator, dann der Rollstuhl, das war bitter. Damals war ich noch Einzelkämpferin, dachte, ich stehe das alleine durch. Aber mein Zustand verschlechterte sich ständig.

Ich wollte die Grenzen nicht akzeptieren und mich mit Krankengymnastik und Muskeltraining in meine alte Verfassung zurückkämpfen. Für die Psyche war das gut, vermeintlich auch für den Körper, weil ich ihn gespürt habe. Aber der Körper hat sich gewehrt. Ich war auf dem Weg, ihn zu zerstören, weil ich nicht akzeptieren konnte, dass er mich so verlässt.

Heute ist es so: Manchmal steht mein Körper Kopf. Es ist eine Mischung aus Schmerz, Angst, Hilflosigkeit - atemlos, krampfend, nervend. Ich fühle mich dann völlig ausgesaugt. Mein Kopf ist dagegen völlig klar. Ich bekomme alle Veränderungen mit. Mein Geist ist wach, mein Körper schwach.

Ich habe eine Schmerztherapie versucht - und eine Gesprächstherapie, weil meine Seele damit nicht klargekommen ist. Neben engen Freunden hilft mir die Psychotherapie, mit meinem Schicksal fertig zu werden. Und sie gibt mir die Motivation zum Weitermachen. Ich sage mir dann: Gib nicht auf! Relativiere Dein Leid! Es gibt Leute, denen es noch viel dreckiger geht als Dir. Ich musste erst lernen zu akzeptieren, dass es ist, wie es ist.

Am stärksten vermisse ich heute das Tanzen und das Radfahren. Ich hatte mir vor zehn Jahren noch ein Cruiser Bike gekauft. Jetzt habe ich einen Rollstuhl, der zehn Stundenkilometer schnell fährt. Auch das einfache Spazierengehen fehlt mir. Ich war so gerne draußen. Wenn ich dann heute Menschen begegne, habe ich oft ein Lächeln auf den Lippen - und bekomme häufig eines zurück. Das sind meine kleinen Freuden.

Es gibt Tage, an denen ich mich in die Mülltonne verbannen würde

Natürlich bin ich nicht gefeit vor Rückschlägen und schlechten Tagen, an denen ich mich am liebsten selbst in die Mülltonne verbannen würde. Aber ich versuche mein Schicksal anzunehmen. Mehr kann ich ja ohnehin nicht machen.

Mein Leben musste ich vollkommen neu justieren: Ich bin vor einem halben Jahr in eine behindertengerechte Wohnung gezogen. Seit mehr als einem Jahr habe ich eine 24-Stunden-Betreuung, sieben Tage die Woche. Einfach ist das nicht. Gerade bin ich ziemlich genervt. Denn ich möchte auch mal für mich allein sein, möchte meinen Soul der späten sechziger, frühen siebziger Jahre hören und dann im Wohnzimmer wie blöd hin und her fahren bis die Reifen brennen. Das fordere ich mittlerweile ein und das nehme ich mir. Das mache ich auch, wenn es mir schlecht geht: Dann höre ich einfach laut Musik.

Ich habe immer schon gern mal gekifft, und ich hatte das Gefühl, dass es mir gewisse Schmerzmomente nimmt. Ich habe mir dann mal 80 Gramm besorgt. Wie der Teufel es will, bin ich aber zu Beginn der Krankheit in eine Fahrzeugkontrolle geraten. Es folgten Anzeige, Gerichtsverhandlung, Strafe. Eine krasse Situation, die mir viel Kraft geraubt hat. Seit 2009 darf ich THC aus medizinischen Gründen nutzen. Neben einer ganzen Bandbreite an Medikamenten, die starke Nebenwirkungen haben wie Appetitlosigkeit, Krämpfe, Durchfall. Momentan nehme ich siebzehn Tabletten pro Tag. Damit hadere ich oft. Wie lange verkraftet das mein Körper? Werde ich mal leberkrank?

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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Ich rauche heute fünf Joints am Tag, etwa ein halbes Gramm. Das wirkt entspannend, regt den Appetit an, löst Krämpfe - und ich kann so auch mal den Kopf abschalten. Denn ich werde es nicht los, dass meine Krankheit nicht heilbar ist. Ich schaue praktisch zu, wie mein Körper dahinschwindet. Wenn nicht etwas erfunden wird, werde ich mit dem Schwund an Muskeln leben müssen.

Inzwischen glaube ich aber wieder an mich. An dem Punkt, wo ich alles beenden wollte, hat sich das Stehaufmännchen in mir gemeldet. Ich wollte und will nicht mit einer Überdosis an Schmerzmitteln aus dem Leben scheiden. Ein guter Freund von mir ist querschnittsgelähmt seit er 15 Jahre alt ist und kann eigentlich gar nichts. Trotzdem hat er mir sehr geholfen, gezeigt wie man mit dem Rollstuhl umgeht, die Wege zu den Ämtern geebnet, mit seinem Humor hat er mir die Tür immer wieder aufgemacht. Er zeigt mir immer wieder, dass das Leben lebenswert ist.

Trotzdem ist das Leben für mich ein harter Kampf. Bei einem Down kann ich mich schwer ertragen, dann leide ich. Aber ich bin ein Kämpfer. Ich trotze der Krankheit. Ich weiß, dass nach schlechten Tagen auch gute folgen, mit weniger Krämpfen und mit mehr Sonne, mit mehr Gesellschaft. Außerdem lache ich viel zu gern, um mich von meiner Krankheit runterkriegen zu lassen."

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