Neuhausen:Zwischen Himmel und Erde

Nichts hält so lange wie ein Provisorium, heißt es. Seit 25 Jahren gibt es das städtische Atelierhaus an der Dachauer Straße. An diesem Sonntag öffnen die Künstler ihre Werkstätten

Von Jutta Czeguhn

Das Lachsbrötchen an sich wird in seiner Bedeutung für die Kunst allgemein unterschätzt. Die Künstler im städtischen Atelierhaus an der Dachauer Straße 110 g jedoch wissen um den Wert dieses beliebten Fingerfoods. Denn ihm verdanken sie etwas sehr Entscheidendes. Weshalb sie folgende Geschichte noch heute gerne erzählen: Im Dezember vor 25 Jahren, bei der Eröffnung des Künstlerhauses, tat ein Vertreter des Kulturreferats einen beherzten Biss in so eine fischige Semmel, die wegen der Eiseskälte im alten Bau schockgefroren war. Der seinerseits schockierte Herr behielt zwar alle seine Zähne, doch verkündete er umgehend Konsequenzen: So geht's nicht, eine Heizung muss her.

Atelierhaus Dachauer Straße 110g

Auf der neuen Feuerleiter: Die Mitglieder des Vereins Atelierhaus Dachauer Straße (von links) Uli Zwerenz, Alfred Görig, Carolin Leyck, Susanne Koch, Sara Rogenhofer, Luise Ramsauer, Michael Runschke und Nina Annabelle Märkl.

(Foto: Florian Peljak)

Viele der Künstler aus der klammen Gründerphase, als man mit Eiswadln dastand und absurd viel Geld für strombetriebene Radiatoren ausgab, gehören heute noch, ein Vierteljahrhundert später, zur Ateliergemeinschaft. An diesem Sonntag, 3. Dezember, kann man mit ihnen dieses Jubiläum feiern und alle 22 von gluckernden Heizkörpern zentral erwärmten Werkräume durchstreifen. "Zwischen Himmel und Erde das Haus" haben die Künstler einen Katalog betitelt, der zu diesem Anlass erscheint. Das klingt nach einer irgendwie schwebenden Existenzform, nach Drahtseilartisten, die bisher noch immer sicher auf dem Boden gelandet sind. Dabei sind heute mehr denn je Fliehkräfte aktiv im sogenannten Kreativquartier an der Dachauer Straße. Die Künstler werden neue Nachbarn bekommen, die Stadt plant auf dem 20 Hektar großen Areal Wohnungen, Gewerbe und Bildungseinrichtungen.

Atelierhaus Dachauer Straße 110g

Die Künstler gründeten einen Verein, um schlagkräftiger zu sein.

(Foto: Florian Peljak)

Ein Besuch bei den Künstlern wenige Tage vor ihrem großen Jubiläum. Man trifft sich erst mal im "Himmel", also im zweiten Stock. Ein langer, heller Gang, von dem die Ateliers abgehen, an dessen Ende eine Sitzgruppe mit Fensterblick über das Gelände. Es gibt Kaffee und Geschichten über die Anfänge: Das Haus stammt aus dem 19. Jahrhundert, es steht auf dem Gelände der ehemaligen Militärwerkstätten gegenüber der Max-II-Kaserne, im Zweiten Weltkrieg wurden hier Kleinraketen produziert. Später zog in die oberen Räumen das Archiv für Lehrliteratur der Stadtbücherei ein, im Erdgeschoss wurden Ampelanlagen getestet, im Keller hatte die Hannoversche Maschinenbau AG eine Reparaturwerkstatt. Doch gab es schon seit Mitte der Sechzigerjahre auch Kunst im Haus, zunächst der Bildhauer Konrad Kurz, dann zog 1976 Alfred Görig im Keller ein.

Atelierhaus Dachauer Straße 110g

Eigentlich sollte das Atelierhaus an der Dachauer Straße nur fünf Jahre bestehen, nun sind es schon 25.

(Foto: Florian Peljak)

"Wo ist er eigentlich, der Alfred?", fragt einer in der Kaffeerunde, der Bildhauer sei schließlich der eigentliche Gründungsvater der Ateliergemeinschaft. Sara Rogenhofer, Frau der ersten Stunde, erklärt: "Alfred Görig war es, der 1991 das Kulturreferat auf das leer stehende Haus aufmerksam machte." Eine regelrechte Bruchbude mit nur einem Wasseranschluss pro Stockwerk sei das gewesen, ergänzt Luise Ramsauer, ebenfalls eine Veteranin. Bei der "Bewohnbarmachung" bekam die Stadt finanzielle Unterstützung durch die Hypo-Kulturstiftung. Die Künstler, die an diesem Vormittag in der Sofaecke vertraut wie Kommunarden zusammensitzen, gehörten fast alle zu den Erstbeziehern. Ausgewählt von einer Jury.

Atelierhaus Dachauer Straße 110g

Der Verein träumt von einer Art Mehrgenerationen-Künstlerhaus.

(Foto: Florian Peljak)

Anfangs habe es im Gebäude nur große Hallen gegeben, erinnert sich Susanne Koch und lädt ein zur Tour durchs Haus. Erst geht es durch den zweiten Stock, dann eine Etage tiefer. Die Ateliers seien damals in großem Tempo eingebaut worden. Jeder der Künstler habe sich die knapp 40 Quadratmeter großen Parzellen selbst gestalten können. Heute sind sie geprägt vom Geschmack und Charakter ihrer jeweiligen "Bewohner". Luise Ramsauer hat sich in ihr Reich einen warmen Holzboden hineingelegt. Carolin Leycks Atelierfußboden sieht aus wie ein Gemälde von Cy Twombly. "Ich arbeite eben gerne am Boden", sagt sie. Ihr Bereich hat auch eine provisorische Küchenzeile und eine Büroecke mit Computer. Michael Runschke hat in seiner Parzelle Platz gefunden für eine Tiefdruckpresse, auf der er seine Radierungen fertigt. 285 Euro Miete zahlt er an die Stadt. Für Münchner Verhältnisse geschenkt.

Atelierhaus Dachauer Straße 110g

Derzeit prüft die Stadt eine Sanierung.

(Foto: Florian Peljak)

"Ich wüsste nicht wohin, wenn ich hier rausmüsste", sagt Carolin Leycks, und auch alle anderen legen die Stirn in Falten. Diese Stadt sei unbezahlbar geworden. "Unsere Mietverträge laufen eigentlich zum 31. Dezember 2017 aus", sagt Michael Runschke beiläufig. Noch habe man von der Stadt nichts gehört. Niemand könnte so schnell ausziehen. Dieser Schwebezustand, der jedem anderen schlaflose Nächste bereiten würde, gehört hier wohl zum Spiel. Denn fragt man im Kulturreferat nach, dann heißt es, die Mietverträge seien bis Ende 2019 verlängert. Ans Kofferpacken mussten sie in diesem Haus, einem der vier städtischen Atelierhäuser, schon mehrmals Mal denken. 2008 kam die Ankündigung der Stadt, bis 2010 müsste alles geräumt sein. Das Haus sollte abgerissen werden zugunsten einer Neubebauung des Geländes. Die Künstler gründeten einen Verein, um schlagkräftiger zu sein. Ein von ihnen initiiertes, prominent besetztes Podium brachte im März 2011 eine Art moralisch-geistige Wende in den zuständigen Etagen der Stadt. Kunst braucht einen Standort, so die Einsicht, die in weiteren Diskussionen vertieft wurde. Das Atelierhaus ist nun Teil der Planungen des Berliner Büros Tele Internet Café für das Gesamtquartier.

Doch was wird die Zukunft bringen, wenn 2020 die Bauarbeiten beginnen? Es scheint, als gingen die Meinungen darüber unter den Atelierhaus-Bewohnern auseinander. Susanne Koch sieht etwas "Einmaliges" im Entstehen, das die Planer zusammen mit allen den Akteuren im Kreativquartier erarbeiten würden. Sara Rogenhofer ist verhaltener: "Ein Ort, der von der Subkultur entwickelt wurde, ist etwas anderes als einer, der von Architekten geplant wird." Sie wünscht sich von der Stadt mehr Zutrauen in ihre Künstler. Seit Jahren wartet der Atelierverein auf Antwort der Stadt zu seinem Vorschlag, das Haus in Erbpacht eigenverantwortlich zu führen und über die Vergabe frei werdender Ateliers nach einem Altersproporz selbst entscheiden zu können. Sie träumen von einer Art Mehrgenerationen-Künstlerhaus.

"Zwischen Himmel und Erde das Haus." Das Jubiläumsmotto kommt wieder in den Sinn. Unter der "Erde", im Keller, hat Bildhauer Görig seine Werkstatt. Carolin Leyck klopft an die schwere Eisentür. "Alfred, wir sind da!" Ein Mann mit weißem Bart öffnet, hier arbeitet der 71-Jährige an schwerem Stein. Seit 41 Jahren. Kaum vorstellbar, dass daran irgendjemand etwas ändern könnte.

Offene Ateliers an der Dachauer Straße 110 g, Sonntag, 3. Dezember, von 12 bis 19 Uhr.

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