Neuhausen:Natur spüren

Draußen zu sein, ist für viele Bewohnerinnen im Heim für blinde Frauen an der Winthirstraße eine willkommene Abwechslung. Ein Wintergarten würde vieles erleichtern

Von Renate Winkler-Schlang, Neuhausen

"Ich seh' nichts mehr": Einige Jahre ist es her, dass die heute 95-jährige Emma Kargl das ihrer Tochter Gertrud anvertraute. Altersbedingte Makuladegeneration lautete die Diagnose. Heilbar ist das nicht. "Ein Schock für uns beide", erinnert sich die Tochter. Ihre Mutter habe bis dahin allein gelebt, sich selbst versorgen können. Ihre geliebten Spaziergänge im Nymphenburger Park habe sie zunächst beibehalten, solange es ging, aber nicht, wie früher, kreuz und quer, sondern immer auf dem Hauptweg. Die Augen aber erkannten immer weniger, das ging ganz schnell. Emma Kargl brauchte Hilfe zu Hause. Nach einem Krankenhausaufenthalt, bei dem sie sich auch noch Keime eingefangen hatte, musste schnell eine andere Lösung her. Heute weiß Emma Kargl, inzwischen auch etwas dement, zwar nicht genau, auf welchem Stock ihr gemütliches Zimmer im Heim für blinde Frauen an der Winthirstraße liegt - aber die humorvolle alte Dame sagt mit großer Überzeugungskraft: "Ich fühl' mich hier daheim."

Und doch will sie raus. "Raus, raus, raus", sagt Ursula Steindl, die Leiterin des Heims. Ihre Schützlinge spürten eben, was ihnen gut tue: Die frische Luft, aber auch die Abwechslung der Temperatur, der Wind, die Gemeinschaft mit der Person, die geduldig ihren Rollstuhl schiebt und ihnen erzählt, was rundum los ist. Steindl ist sicher, dass sich Emma Kargl nach dem Krankenhaus nur deshalb wieder so erstaunlich gut berappelt hat, weil sie so leidenschaftlich gern draußen ist.

Neuhausen: Heimbewohnerin Emma Kargl (links) liebt es, draußen zu sein. Ihre Tochter Gertrud (rechts) begleitet die Blinde, so oft es geht.

Heimbewohnerin Emma Kargl (links) liebt es, draußen zu sein. Ihre Tochter Gertrud (rechts) begleitet die Blinde, so oft es geht.

(Foto: Catherina Hess)

Es regnet, dessen ungeachtet holt Tochter Gertrud den hübschen Filzhut, den Mantel, an dessen Kragen die Blinden-Plakette mit den drei Punkten steckt, den warm gefütterten Muff für die Hände, den Schirm. Emma Kargl zieht es zumindest in den schönen Garten des Pflegeheims, denn auch ohne es zu sehen, weiß sie, wo der Stall mit den weichen Kaninchen ist.

Ursula Steindl erzählt derweil von der Einrichtung, die sie bereits seit 15 Jahren leitet: Sie geht zurück auf eine anonyme Spenderin 1856, als es noch keine soziale Absicherung gab. Das erste Haus brannte im Krieg ab, die von einer Stiftung getragene Nachfolgeeinrichtung war 1954 fertig, 1992 wurde das Heim grundlegend saniert, umgebaut und erweitert. Von Geburt an blinde Frauen leben hier nach ihrem Arbeitsleben als Korbflechterin, Bürstenbinderin oder Strickerin. Sie finden sich am besten zurecht. Grüner oder grauer Star, die Folgen von Diabetes, Makuladegeneration, das sind die späten Diagnosen der anderen, der Sehbehinderten, die manchmal noch Schatten erkennen oder hell und dunkel unterscheiden können. Eine eigene Kraft hilft ihnen bei der Eingewöhnung in das gut strukturierte Haus mit den breiten Gängen, in denen das wenige, das herumsteht, immer konsequent am selben Platz sein muss, wo beim Mittagessen das Glas, der Salat, das Fleisch immer genau gleich angeordnet sein müssen.

Die 89 Patientinnen sind durchwegs betagt, ihr Durchschnittsalter ist 90, die Älteste, sie ist 102, kam mit 100 ins Heim. Für einige sei es beruhigend, dass gemäß dem Willen der Stifterin nur Frauen hier betreut werden, erzählt Steindl. Die Komplimente des männlichen Pflegepersonals aber hörten auch die ältesten Frauen immer noch gern. "Die Konkurrenz schläft nicht", habe eine kürzlich gesagt, als sie sich für eine Feier schön angezogen hat. Viele der Bewohnerinnen aber sind nicht nur fast blind, auch ihr Gehör hat sie schon im Stich gelassen, andere sind dement. "Ein ganz schweres Schicksal", sagt Steindl mitfühlend. Wie schwer da die Verbindung zur Realität ist, das kann sich ein sehender Mensch kaum vorstellen. Steindl hat einmal selbst ausprobiert, sich mit verbundenen Augen in ihrer eigenen Wohnung zurechtzufinden, sie holte sich prompt eine Beule an einer Zimmertür.

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Musik, Singen, Zeitung vorlesen, Quizspiele, Feiern, ein wenig Basteln: Die Betreuer und die vielen Ehrenamtlichen tun alles, um die Bewohnerinnen spüren zu lassen, dass sie gut aufgehoben sind. Doch am schönsten ist es für viele der Frauen einfach draußen, am liebsten in Gemeinschaft mit anderen. "Ich will da hin, wo sich was rührt", steuert Emma Kargl bei.

Ursula Steindl hat schon seit zehn Jahren einen Traum: ein Glasdach und eine aufschiebbare Glaswand im Eck zwischen dem Café und dem Gartenzugang, ein wetterfestes helles Gartenzimmer für die feuchten und die kühlen Tage. Sie breitet die Arme aus: "Die Frauen sehen zwar den Garten nicht, aber sie spüren ihn." Ein solcher Wintergarten könnte dem Bedürfnis, draußen zu sein, genügen, gleichzeitig auch als zusätzliche Gemeinschaftsfläche dienen, denn die auf den Stockwerken werden bisher mehrfach genutzt, auch zum Essen. Eine fünfstellige Summe wäre nötig, um den Traum zu realisieren, der im eng gefassten Budget des Heims nicht drin ist. Doch Steindl lässt sich nicht abschrecken, sie setzt auf viele kleine und größere Spenden. In zwei Jahren, so hofft sie, werde sie unterm Glasdach sitzen und mit Emma Kargl über deren Späßchen lachen. "Ich bin die Bravste und die Schönste", sagt die gerade, "aber nur, wenn ich allein bin". Ihr geht es gut. Auch, weil sie sich schon auf den nächsten Spaziergang freut.

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